Es regnet

© PartieTraumatic [http://www.flickr.com/photos/x_mrswarhol/3577545700] CC-BY-NDTag der Arbeit. Welch ein Hohn! Die Straße schimmerte schwarz. Es regnete.

(So darf eine Geschichten eigentlich nicht anfangen. Der Leser vermutet sofort und völlig zurecht Primaner-Prosa ohne Pepp – und, viel wichtiger noch: ohne jegliches Poppen. Darum geht’s ja stets in diesen pubertären Pennäler-Geschichten – unerfüllte Sehnsucht und (feuchte) Träume, romantisch verrückt und letztlich bloß handbetrieben, Träume, die man so hat mit 17 – die einen irgendwann einholen, wenn man nicht aufpasst, vielleicht in der Zielgeraden zur 50, wenn sowohl das Feld als auch der Porsche bestellt sind. Lassen wir das. Hier ist der Regen tatsächlich von Bedeutung. Weil:)

»Die schweren Tropfen wollen mich verhöhnen«, dachte er, »aus einem Himmel, grau und dumpf, teilnahmslos bis komatös, klatschen sie frech in mein Gesicht«, flossen die Gedanken weiter, »und verwässern mir den Blick auf den unausweichlichen Schritt. Vergeblich! Kein Weg zurück!« Diese für ihn immens wichtige Erkenntnis beendete fürs erste seinen inneren Monolog. Er war obendrein wütend, da der Boden unter seinen Füßen nicht derart erbebte, wie er es sich erhoffte, als er die Tür hinter sich zuschlug. Dieser Tag schien verloren. Er fingerte sich eine Filterlose zwischen die Lippen, riss ein Streichholz an im Schutze der verschlissenen Wildlederjacke – einst günstig auf dem Flohmarkt erstanden, nun als Dauerstatement progressiver Konsumverweigerung getragen, lange vor Naomi Klein – entflammte die Zigarette und inhalierte tief in die Bronchien hinab, die sich sofort ängstlich bei den Händen hielten.

»Ihr habt’s nicht anders verdient, ihr Schweine!«, murmelte er, stoßgebetartig entwich der Rauch seinem Gesicht und es blieb unklar, wen er konkret damit meinte.

(Geduld. Der Regen ist wichtig. Wirklich.)

In der Ferne erschien schemenhaft eine Silhouette. Zunächst wußte er nicht, was sie darstellte, er näherte sich ihr hastigen Schrittes, sein Weg war schließlich noch weit und er war gewillt, dieser Erscheinung keine Beachtung zu schenken – selbst, als er erkennen musste, dass dort ein kleines Mädchen im Regen stand. Fröhliche Zöpfe trug sie, ihr kleines Gesicht strahlte unerhört, sie war vielleicht zehn. So viel drang immerhin zu ihm durch. Er wollte das Gör, das längst ins Bett gehörte, passieren, mit einer seiner Situation entsprechenden Nichtbeachtung – sein Tag war immerhin finster wie der Arsch des Klüttenmanns, jeder macht und trägt sein verdammtes Kreuz, ich kann mich nicht um alles kümmern, »bin ich Jesus?« – als er diese leise Stimme vernahm, kaum hörbar im Rauschen dieser trostlosen Welt.

(Nicht vergessen: Es regnet.)

»Ich wachse. Klasse, oder?«

Er blieb unvermittelt stehen, die Asche seiner Zigarette tropfte zischend in eine Pfütze, er warf entgegen seinem Vorsatz einen Blick auf das Mädchen: Wie Sterntaler stand sie da, den ausgebreiteten Rock in den Händen, ihre Zunge streckte sie weit heraus, um ja keinen der offenbar süßen Tropfen zu verpassen.

»Guck mal, wie ich größer werde.«

Tatsächlich: es war das Kind, das jene Worte sprach. Ihm hingegen fehlten diese jetzt. Völlig perplex starrte er auf das Mädchen, das auf unerklärliche Weise größer und immer größer wurde mit jedem Regentropfen, das sie auffing. Ihm blieb nur Staunen, dieser Anfang von allem. Eine Laterne spendete spärlich Licht, es brach sich hin und wieder in der Gischt des Wassers, das vom Himmel fiel. Ein Regenbogen erschien über ihrem Kopf und er rieb sich verwundert die Augen. Als er sie wieder öffnete, stand eine junge Frau vor ihm, sie war wunderschön, das Licht der Laterne umspielte glitzernd ihr Haar, sie blickte ihm direkt ins Gesicht, mit Augen, tief wie ein Ozean.

»Ich träume«, dachte er, sprach dies leise jedoch aus, ohne es zu merken. Eine warme, weiche Hand legte sich auf seine Wange. Ihre. Sein Zorn verflog wie ein mittelmäßiger Alptraum, den das Erwachen genüßlich vertilgt.

»Wer bist du?«, fragte er vorsichtig
»Finde es heraus. So heisst das Spiel.«

Er zögerte kurz. Und begriff. Die Zigarette segelte sanft durch die Rippen eines Gullis, dann nahm er vorsichtig ihre Hand in seine und die scheinbar gottverlassene Stadt atmete einmal tief durch – sichtlich zufrieden. Der Regen hatte aufgehört, frischer Duft von Lavendel hing in der Luft.

(Sagte ich nicht: Der Regen ist wichtig?)

08:14

Aufmunternd strich die Böe durch ihre Haare, wie ein Scherz aus Kindertagen, die Sonne stand tief in ihrem Rücken, träge vom Tagwerk und sichtlich zufrieden über jener Linde, die vor kurzen noch mit stolzer Brust an Demut gemahnte, inzwischen allerdings nur noch herbstlichen Trotz verströmte, als Ausgleich gewissermaßen, sie lächelte ein letztes Mal, verschmitzt, wie beim ersten Mal, damals, nun aber zum Abschied, er schwieg, bewegte sich nicht, hielt die Luft an, schloss die Augen für einen kurzen Moment, vergaß sich, scheinbar endlos, sah und hörte, beherzt atmete er wieder ein, öffnete die Augen — nur die Linde stand dort, nackt und regelrecht pikiert, er lachte laut und schloß sie zärtlich in seine Arme.

— Kann ich irgendwie helfen? fragte unvermittelt ein Wachscotton umhüllter Wildhüter, der sich unbemerkt mit seinem Jack-Russell aus dem Dickicht genähert haben musste.

— Ja, sagte er ohne sich umzudrehen, legen Sie bitte die Nadel noch einmal auf den Anfang des Stücks, das wäre sehr nett.

Jedes Menschen Pflicht sollte sein, eine Liebesgeschichte zu schaffen, groß, schön, ehrenhaft peinlich, um näherzukommen dem Geheimnis.

 
— Helmut Krausser: Thanatos (1996)
 
 
Aerosol – Midnight Ride Down the Mental Freeway