Hätt‘ ich ein größeres Gehirn

Jeder andere wäre gnadenlos in den Kitsch entglitten – bei diesem Thema: Hühnermassenhaltung: Herzschmerz und »Ein bißchen Frieden.« Doch Peter Broderick, dieser geniale und noch sehr junge Poet, schafft das nahezu Unmögliche und eröffnet uns durch seine gefühlvolle Introspektion in das Hirn eines Schnitzels in spe völlig neue Zugangswege zum Leid dieser gefiederten Insustrieprodukte. Schon allein der Titel des Songs – »Human Eyeballs on Toast« – verdient Respekt: Selten wurde berechtigte Wut so kunstvoll-assoziativ in Worte gemeißelt. Und dient obendrein als Allegorie der gegenwärtigen conditio humana.

Das Stück ist übrigens Titel No. 2 seines kürzlich auf Bella Union erschienen Albums »How They Are«, das quasi in einem Rutsch und ungefiltert auf einem 4-Spur-Rekorder aufgenommen wurde.

Dass dieses Album empfehlenswert ist muss ich hier nicht extra erwähnen.
Erwähnen möchte ich allerdings, dass Peter in Kürze einer seiner seltenen Auftritte in Deutschland hat:
Am 12. Oktober im Steinbruch, Duisburg.
Und ich werde natürlich da sein.
 
 
Peter Broderick – Human Eyeballs On Toast (Studio Recording)

Nicht nur im Anfang: Das Wort

Worte haben Macht. Und das meist sogar ohne jegliche Gewalt. Oft reicht schon der Klang. Für Assoziationen. Und das Prägen unserer Gedanken und Gefühle.
Will Hoffmann (dessen wunderbares Video »Moments« hier schon vorgestellt wurde) hat zusammen mit Daniel Mercadante für Radiolab einige eben jener Worte in vielschichtige Bilder verwandelt. Mal humorvoll, mal tiefsinnig. Immer jedoch anregend.

Früher, als ich noch als Script-Editor tätig war, hatte ich eine wiederkehrende Phantasie: Szenen von nicht ganz so sprachbegabten Autoren ganz wörtlich zu verfilmen, also: „Er schoss um die Ecke“, „Sie beschleunigte ihren Schritt“, „Sie treten aufs Gas“. Ist leider nichts draus geworden – nein, eher: Gottseidank! Denn Wills Version ist einfach viel poetischer.

Das gleiche gilt auch für die Musik: Der Score ist nämlich von Keith Kenniff (er sollte hier auch schon hinlänglich bekannt sein). Keith hat übrigens heute unter seinem Goldmund-Label ein neues Album namens »Famous Places« auf Western Vinyl veröffentlicht. Er beschreibt darin musikalisch einige wichtige Orte seines Lebens.
Das Stück »Fort McClary« daraus gibt es hier als freien Download.

Genug der Worte: Film ab.
 
 
Radiolab and NPR – Words

Where the hurt comes from

Sehr schöne Idee – sehr nachahmenswert: Man nehme ein x-beliebiges, verblödendes Wahlplakat/Werbeplakat und korrigiere es ein bisschen — mit Poesie.

So geschehen kürzlich in London: Das „Shoreditch Department of Advertising Correction“ zeichnet sich verantwortlich für diese kreative Aktion in London vom 19. April 2010.

Es waren übrigens Wahlplakate der Konservativen.

Mehr davon hier.

(via rebel:art)

Our day will come

Während so genannte Künstler irgendwann einmal so ein bisschen den Arsch hoch und die Zähne auseinander gekriegt und dadurch einem pseudo-engagierten Mitläufer-Mob ihre echt total unvergessliche Gruppen-Experience in der Kölner Südstadt bereitet haben (von denen einige Genossen sicher noch ihren Enkel erzählen würden, hätten sie nicht bereits ihre Fortpflanzungsfähigkeit sozial-verantwortlich wegtherapiert) – ich meine so Bundesverdienstkreuz-bestückte Künstler-Typen wie Wolfgang „Dylan“ Niedecken – einer, der einst auf dicke Hose machte („Stollwerk!! Bollwerk!!“) und erst kürzlich dem Boulevardblatt „Express“ sein jugendliches Missbrauchstrauma offenbarte (offenbar, um auch etwas zur Missbrauchsdebatte im katholischen Puff beizutragen) – gibt es gottseidank inzwischen eine neue Generation von politisch aktiven Künstlern, die wahrhaft Eier in der Hose haben und Statements abliefern, die sich wirklich gewaschen haben.

Zum Beispiel die tamilisch-britische Sängerin Mathangi Arulpragasam – besser bekannt als M.I.A. Zusammen mit dem Regisseur Romain Gavras lieferte sie vor ein paar Tagen einen als Video getarnten Kurzfilm zu ihrem neuen Song »Born free« ab, der aufgrund seiner (vordergründig) verstörenden und unerträglichen Gewalt umgehend von YouTube „zensiert“ wurde (es ist ein Altersnachweis erforderlich, um den Film auf dieser Plattform sehen zu können).

In drastischen – immer aber allegorisch zu verstehenden Bildern – wird darin etwas konsequent zuende gedacht (und gezeigt!), das möglicherweise schon bald real werden könnte, beziehungsweise in viel subtilerer Weise bereits tagtäglich passiert: Neo-faschistische, rassistische Hetzjadgen auf Andersdenkende, in diesem speziellen Fall: Rothaarige. Systemimmanente Gewalt.

Sicher war die Zensur-Keule durch einen Giganten wie Youtube ein Stück weit im Vorfeld mit einkalkuliert – so etwas erzeugt im Netz ja schnell einen irren Buzz, sprich: Aufmerksamkeit.

Zurecht. Es kommt nicht oft vor, dass Künstler (sowohl M.I.A als auch Gavras) so eindeutig wie mutig Stellung beziehen, ihre Haltung ungeschminkt offenbaren und das Vehikel Pop-Kultur benutzen, um Ideen, Visionen und auch Ängste zu formulieren. Für den einen oder anderen ist dieses Video sicher shocking oder einfach nur exzessiv übertrieben. Mag sein. Das sind aber genau die Leute, die bereits lobotomiert und gebrainwashed im spektakulärem Konsumnirvana einbetoniert sind.

Alle anderen atmen erstmal tief durch, dann tief aus: Endlich!
Endlich wagt mal jemand einen Aufbruch!
Dieser Film setzt einerseits einen neuen Maßstab im Bereich Musikvideos (der zu lange schon zur verkaufsfördernden Maßnahme degeneriert ist), andererseits betritt Kunst wieder jenen Sektor, der bisher von tumben, konsequenzlosen und vordergründig merkantil orientierten Tabubrüchen überzogen war:

Ich meine natürlich gesellschaftliche Relevanz.

»Born free« macht wütend. Extrem wütend. Es sind nicht nur die Bilder, es ist insbesondere die Musik, die in einem aggressiven Electro-Punk-Staccato die Synapsen neu verdrahtet.

Wut ist das, was gegenwärtig am meisten fehlt. Gleichgültigkeit und Lethargie, wohin man auch blickt. Doch: Wut macht auch Mut, wenn richtig kanalisiert.

Genau darum geht’s: Nicht immer nur schlucken, ducken und vermeintliche Konkurrenten abfucken, um die eigene, kleine Scholle zu retten. Nein, endlich wirklich mal den Arsch hoch kriegen und sein vertrocknetes Maul aufmachen. Möglicherweise auch ein paar Schläge in die Fresse kriegen. Das ist Teil des Spiels.

Frage: Ist das alles noch Kunst?
Ja. Und zwar in Bestform. Wahre Kunst darf das nicht nur, sie muss.
Your day will come, artist. Thank you.
 
 
M.I.A – Born Free (Official Video, uncut)

16 Songs von Peter Broderick als freier Download

© Peter Broderick [http://www.flickr.com/photos/peterbroderick]Als ich das Album »Home« (Type Records) von Peter Broderick vor einem Jahr zum ersten Mal in den Player schob, erwartete ich nichts Großes – die Scheibe des gerade mal 22 Jahre jungen Amerikaners im dänischen Exil war von Thaddi auf De:Bug irgendwie schon zu subtil gehyped worden. Das macht mich generell skeptisch. Trotzdem wollte ich wissen, ob nicht doch – und wenn ‚ja‘: was –  dran war an seiner Musik.

Kurz gesagt: »Home« zog mir ungefragt die Socken runter und läuft seitdem hier in Heavy Rotation. Um eine Idee von Peters Musik zu bekommen: Stell sie dir als inoffizieller Soundtrack für »Into The Wild« von Sean Penn vor.

Was mich besonders verblüfft, ist die Tatsache, wie man in so jungem Alter Musik derartiger Deepness hin kriegt. Peter ist nicht nur ein begnadeter Multiintrumentalist, sondern schafft es, den Hörer ganz tief drinnen ganz tief zu berühren. Das gibt es nicht so oft.

Das Musik-Blog Victory Rose macht mich gerade darauf aufmerksam, dass Peter eine Flickr-Foto-Site pflegt – und dort auch regelmäßig Songs zum freien Download anbietet. Ingesamt sind es nun 16 Songs bzw. Fragmente, die Peter dort eingestellt hat. Sie pendeln zwischen Neo Folk und Modern Classics, sind teilweise extrem gut produziert, andererseits auch in sehr rohem Zustand.
Was alle allerdings verbindet: Sie sind wirklich extrem höhrenswert.

Genial sakral

Von Jónsi & Alex schrieb ich bereits. Das Stück »Boy 1904« ist ein schönes Beispiel für die majestätische Wucht ihrer Musik. Arvo Pärt winkt freudig im Hintergrund. Da mag man ja fast schon wieder katholisch werden. Es wird mir ein Geheimnis bleiben, wie die beiden das Album »Riceboy Sleeps« unter den Palmen von Hawaii abmischen konnten. Ich assoziiere alles bei diesen Klangwänden – nur keine sengende Sonne und Hula-Mädchen.
 
 
Jónsi & Alex – Boy 1904 (432 Hz, Solfeggio-Stimmung)

It’s all about beauty

Es gibt so viele stille Momente und scheinbar unscheinbare Dinge, die einen zum Weinen bringen. Vor Glück – wenn man genau hin sieht und das Schöne erkennt.

Besonderer Dank an Chaz Bundick (aka Toro Y Moi). Sein neues Album »Causers of This«, das Ende Februar 2010 auf Carpark Records erscheint, ließ mich sein Blog besuchen. Dort entdeckte ich die beiden Videos – und mit »16: Moments« von William Hoffman auch die Musik von Jónsi & Alex (ihr majestätisches Album »Riceboy Sleeps« ist dringend zu empfehlen).
Was für ein Samstag voller wunderbarer Zufälle …

 
 
Radio Lab – Moments