11.04.2022

Momente (IX)

 

In einer Kneipe, die sich als Kulturbetrieb tarnt, um in den Genuss üppiger Fördergelder aus der Staatskasse zu kommen, einem Ort, der sehr subtil einen klandestinen Schutzraum für »Künstler« aller Art (unter oder über dem Radar) bietet, schallt aus den RFT-Lautsprechern höllisch laut »Goldener Reiter« von Joachim Witt. Die Crew hinter der Theke und die Gäste davor, allesamt etwa Mitte Zwanzig, gehen steil drauf ab. Ein unangemeldeter Karaoke-Abend entsteht aus dem Nichts. Die Stimmung ist gut. P. steigt sogar auf die Theke und singt lauthals mit.

Ich erinnere mich daran, wie ich das Lied zum ersten Mal bewusst hörte. Es muss Anfang der 1980er gewesen sein. Es war kalt. November oder Dezember. Ich sitze neben meinem Vater in einem Audi 80, bordeauxrot. Wir schweigen. Dieses Lied läuft im Radio, WDR2. Wir sind auf dem Weg zur Uniklinik. Ich werde die nächsten Wochen in der geschlossenen Abteilung der Kinder- und Jugendpsychiatrie verbringen. Danach bin ich ein Anderer.

Mein Bier trinke ich zügig aus. Bezahlen, Jacke überwerfen, Drückerchen hier, Winkewinke da. Ich gehe nach Haus. Und wünschte, dieses Lied mit anderen Ohren hören zu können.

Joachim Witt – Goldener Reiter

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