14.04.2017

Immernoch
Archäologische Fragmente
 
1.
»Du erwartest etwas von mir, das ich dir nicht geben kann«, sagst du und berührst meine Lippen mit dem Mund, aber es ist kein Kuss.
»Vielleicht könnte ich dir etwas geben, was du nie erwartet hättest«, denke ich und nippe stumm an meinem schwarzen Kaffee, um den süßen Nachgeschmack zu beseitigen.

2.
In der Nacht, in der ich mit dir in einem Bett aber neben der Decke lag und nicht einschlafen konnte, beobachtete ich dich, wie du langsam in die erlösende Dunkelheit sankst, wie sich deine Augen unter den Lidern zur Stirn bewegten, wie du mit jedem Atemzug mehr meinen Geruch in dich einsogst und ich wartete darauf, dass du anfängst zu husten.

3.
Du sitzt auf dem Boden und liest meine Texte. Langsam und leise nähere ich mich dir von hinten, berühre sanft deinen Rücken. Du zuckst zusammen. Obwohl du mich schon so lange in den Händen hältst.

4.
[…]
Beim Versuch das Gehirn auszuquetschen
wünschte ich mir vier warme weiche Hände
[…]

5.
September Song
Ohne zu wissen, wie er dort hin gelangte, erreicht er den Tempel. Die Pforten stehen weit offen. Völlig unvorbereitet stößt er auf etwas Heiliges. Er sieht es ganz klar, es ist keine Täuschung, es macht ihn sprachlos – zu wissen: Ich bin angekommen. Ein merkwürdiges Gefühl, etwas zu finden, von dem er gar nicht wusste, dass er es sucht. Diesen Moment hatte er sich anders vorgestellt. Großartiger, erhabener. Ähnlich dem erlösenden Schrei einer entjungferten Braut in der Hochzeitsnacht. Er hat keine Ahnung, was er jetzt tun soll, sein Kopf ist leer wie ein Kürbis an Halloween. Was er tun will, das flüstert sein Herz jedoch mit jedem Schlag. So deutlich, dass er erschrocken zusammen zuckt. Doch niemand außer ihm bemerkt es. Er erinnert sich an den letzten warmen Tag des Jahres. Die Luft troff bereits kühle Feuchte, die Sonne scherte sich einen Scheiß drum, war blendend gelaunt und tat geradezu so, als wäre der Sommer noch jung. Er saß in der Küche, regungslos, das einzige in Bewegung: der Rauch seiner Zigaretten, ihr Qualm in hübsche Scheibchen geschnitten von den Strahlen, die durch die halbgeschlossene Jalousie drangen, irgendwie verloren. Er hörte Musik. Und nichts sonst. In unregelmäßigen Abständen traten ihm Tränen in die Augen. Er war nicht traurig. Er war ergriffen von dem, was er hörte; aus den Lautsprechern, aus seinem Inneren; war überwältigt von der Schönheit, die durch den Raum schwebte und von der er nicht wusste, warum sie ihn derart berührte. Es brauchte nur einen bestimmten Ton, eine Melodie oder diffusen Klang und es wurde still in ihm, endlich. Er fühlte sich gesegnet, als beugten sich die Götter gnädig schützend über ihn. Die Musik durfte nicht enden. Er verharrte zwischen den Lautsprechern, bis der neue Tag trotzig zwischen den Häusern anbrach. Dann erst konnte er einschlafen und traumlos träumen. Jetzt aber hört er keine Musik. Irgendein Idiot hält länger als nötig seine Pranke auf die Hupe und übertönt alles. Sie stehen sich gegenüber, auf der Fußgängerinsel, zwischen den Spuren, es wird allmählich dunkel und er weiß, dass er sich entscheiden muss und niemand ihm dies abnimmt. Die Ampel springt auf Grün. Doch nichts geschieht. Eine tiefe Ruhe kehrt ein, der Verkehr kommt zum Erliegen, alle Autos bleiben grundlos stehen, sämtliche Passanten frieren in ihren Bewegungen ein und zwei Blicke begegnen sich. Er meint, das Geräusch kollidierender Güterzüge zu hören, doch es ist nur eine Illusion. Dann endlich zieht er sie zu sich, sie lässt ihn gewähren. Er riecht ihr Parfum, es ist leicht und blumig, sie scheint ein wenig zu zittern, wie ein elektrifizierter Aal, knapp vorm Kurzschluss, er küsst sie, sanft auf die Wange, unterhalb des Ohres, ihre Haut ist weicher als er dachte, hätte er sich je darüber Gedanken gemacht, er versinkt in ihrem Gesicht, taucht ab in glitzernde Tiefen, ist plötzlich eins und leer und voll, zugleich Jesus und Judas und schließt die Augen. Als er es wagt, sie wieder zu öffnen, bricht der Verkehrslärm über ihn herein wie Lava eines zornigen Vulkans, ein Junge pfeift ihnen nach und ihm wird schlagartig klar, dass nun alles vorbei ist. Endgültig. Er bereut nichts.

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