11.05.2014

Fäseke sieht sich um, schwer verkatert, und erkennt, dass er gerade dabei ist, alles zu verlieren. Sein Zuhause, seinen Glauben, seine Liebe.
Paul LeChien schiebt ihm stumm eine Tasse heißen Kaffee rüber. »Alles wird gut«, sagt er und erschrickt im gleichen Moment, da er spürt, dass seine Worte die klare Strahlkraft verloren haben und nunmehr nur noch ein Pfeifen im Dunklen sind.

10.05.2014

Überraschung! Was als Vorsatz eigentlich für den Sommer geplant war – zu tanzen, als gäbe es kein morgen mehr – wurde schon heute vollzogen. Einfach so. Und Tim Booth hätte seine Freude daran gehabt: Auch nach 25 Jahren Abstinenz sind meine Bewegungen weiterhin derart raumgreifend, dass mir ein respektvoller Freiraum von 3 Metern Durchmesser gewährt wurde.
»Temple Of Love«, »I’m Still Alive« und »Time To Wonder« – kamen quasi wie bestellt. Und hätte sie nicht nach Waldbröl gemusst, dann hätte ich noch einen sehr sympathischen Lift nach Hoppengarten bekommen.

08.05.2014

Dass dies doch noch möglich sein würde, das habe, das hätte ich nicht mehr geglaubt. Abgefunden mit Tatsachen nennt man so was gemeinhin, klare Fakten.
Dann kommt der Punkt, wo man hin geht und schaut. Das kann aus purer Neugier geschehen. Vielleicht aus Angst. Oder Wut. Oder allem zusammen. Weil man den Fakten nicht mehr vertraut, letztlich.

Nun ist der ab, der Ring, der einst Versprechen war und leider auch kein Talisman mehr. Ich hatte ihn lange Zeit als Teil meiner rechten Hand akzeptiert, unlösbar verbunden, auf die Ewigkeit. Und dann brauchte ich tatsächlich nur ein großes, sehr großes Stück Mut, jede Menge Tränen und Rotz, um ihn gleitfähig zu machen, am Ende dann einen festen Entschluss und beharrliche Kraft, um die Fessel zu entfernen. Es ging eigentlich ganz leicht.

Zu spüren, dass die Energie wieder fließt, ist ein großartiges Gefühl – auch, wenn die Angst damit nicht abgelegt ist.

06.05.2014

Er blickte ungläubig auf das Wasser, die Wogen hatten sich geglättet, der Sturm war wohl fürs Erste vorüber und die Oberfläche des Sees derart spiegelglatt, dass Fäseke Zweifel bekam, ob das zurückliegende Unwetter tatsächlich war oder nur ein Traum. Er schüttelte den Kopf und lächelte, das tat er sonst selten bis nie. »Schon toll, welche Handlungsspielräume man hat, wenn man mal drüber nachdenkt.« Paul LeChien bereite in aller Seelenruhe sein Badelaken auf dem Holzsteg aus, justierte die Sonnenbrille mit beiden Händen, was echt cool aussah und den Ladies auf der Promenade ein leises aber umso leidenschaftlicheres Seufzen entlockte. »Noch besser ist es aber, diese wahrzunehmen«, sagte er ohne jeden Zweifel, griff in seinen Jutesack, zog eine gelbe Plastikente hervor, warf sie in das Wasser und sah ihr nach, wie sie langsam – ganz langsam, auf den See hinaus getrieben wurde.

04.05.2004

Connecting the dots, bilanzierend macht es Sinn, es brauchte ein knappes halbes Jahrhundert Warmlaufen für die Aufgabe, die nun wartet: Mich verschenken, verschwenden, vergessen – und endlich all die vielen Schneisen der Liebe zu küssen, die nötig sind, um auch wirklich den letzten Funken Angst zu löschen, leidenschaftlich und lustvoll.

03.05.2014

»Gleich ist es vorbei, gleich bin ich tot«.
Der Gedanke, zu sterben, durchströmte mich kalt wie eine statistische Formel. Ich willigte ein, ich hatte keine Wahl, ich ließ alle Anspannung los, hielt mit geschlossenen Augen die Kehle hin und sagte: »Ich bin bereit.«

Seit ewigen Stunden saß ich nun schon am Grunde des Brunnens. Kein Licht war zu sehen, die Luft feucht und kalt. Ich war allein, ich fror, ich zitterte leicht. Allmählich bekam ich Angst. Bislang hatte ich noch die unerschütterliche Hoffnung, dass mich jemand sucht – genauer: mich findet und rettet. Irgendwann habe ich aufgegeben, meine Rufe und Schreie drangen nicht bis nach Oben durch, egal wie laut und in welcher Tonlage sie auch erfolgten. Irgendwann machte sich ohne Vorwarnung der Bombensplitter unterhalb meiner dritten Rippe bemerkbar – sehr unangenehm. Lange hatte ich ihn nicht mehr gespürt, nun aber sorgte er plötzlich wieder für einen Schmerz, den ich niemals in meinem Leben mehr empfinden wollte; weil er so brutal ist, so unmenschlich und so vernichtend.

Das pulsierende Stechen wurde stärker. Noch gelang es mir, das alles irgendwie weg zu atmen, durch die Wellen zu tauchen, mit dem Rhythmus zu schwimmen. Doch auch hierbei musste ich bald resignieren. Wenn der Schmerz angerollt kam und seinen Höhepunkt erreichte, blieb mir die Luft weg, mir wurde schwarz vor Augen. So ging das eine halbe Ewigkeit. Irgendwann wurde ich bewusstlos, ich musste dem Wachzustand entkommen, es war die einzige Chance gegen dieses infernalische Purgatorium.

Als ich erwachte erkannte ich schemenhaft eine Person am hinteren Rand des Brunnens. Sie lag auf dem Bauch und atmete flach. Da mein Schmerz für einen Augenblick pausierte, nutze ich den Moment, und kroch zu der Person hinüber. Als es mir gelang, das Gesicht im Restlicht der Brunnenöffnung zu identifizieren, erschrak ich: es war Minimi. Er war ausgemergelt, verwahrlost, schmutzig, verletzt an Armen und im Gesicht, Schrammen und Blut, wohin ich blickte. Offenbar wollte er mir zu Hilfe kommen und ist selbst in den Brunnen gestürzt. Vorsichtig drehte ich seinen verwundeten Körper auf den Rücken und nahm ihn ganz behutsam in den Arm. Er lag im Sterben, eindeutig. Er brauchte eine Minute, bis er seine Augen öffnen konnte, er suchte verzweifelt meinen Blick. Es kostete ihn sichtlich mehr Kraft, als er zur Verfügung hatte, bis er flüstern konnte: »Ich hab’s wieder nicht geschafft«. Ich drückte ihn fester an mich, er tat mir so leid. Warum nur machte er sich stets diese massiven Vorwürfe?

Dann fiel ich unvermittelt in einen Abgrund. Tiefer und tiefer, orientierungslos, schwerelos. Und schlug sehr unsanft auf. Ich konnte das Blut schmecken, metallisch, das von meiner Lippe troff. Ich überprüfte meine Hände, sie schmerzten. Als ich sie genauer betrachte, erschrak ich: das waren nicht meine Hände, es waren die Hände von Minimi. Klein, filigran, dürr, mit abgekauten Fingernägeln.
Ich war allein. In der dunklen Ecke eines staubigen Kohlenkellers. Als ich an mir herab blickte, im Streulicht des stumpfen Fensters, wurde mir klar: Minimi, das bin ich. Wir hatten die Rollen getauscht. Ich konnte mir das alles nicht erklären. Panik fuhr mir durch den Körper, eine bisher ungekannte Angst übermannte mich regelrecht. Ich begann zu zittern, erst leicht, dann stärker, es reichte fast bis zum Spasmus. Ich war wehrlos, schutzlos, nackt. Der Keller verschwamm vor meinen Augen. Was ist das für eine Angst? Wovor hat Minimi nur solche große Angst? Es kam mit der Wucht einer Lawine, nahezu ohne Vorwarnung standen mir die Dämonen im Rahmen der Kellertür gegenüber, die Minimi in Todesangst versetzten.

Sie hatten menschliches Antlitz. Sie lächelten freundlich. Ich bat sie, mir zu helfen, doch sie blickten verständnislos in den Raum. Ich bettelte, flehte, winselte – doch sie wendeten sich von mir ab, emotionslos, teilnahmslos, ohne Worte. Und schlossen die Tür. Die Angst, die ich daraufhin empfand, war einfach nur lähmend.

Sie ließen mich allein, tatsächlich, da unten, im Dreck des schimmligen Verlies. Warum? Warum taten sie das? Hatte ich etwas falsch gemacht, etwas Falsches gesagt? Warum verlassen sie mich? Sie dürfen mich nicht verlassen! Ich brauche sie. Ich bin klein, ich schaffe das nicht, ich werde sterben.

Die Angst, die ich spürte – Minimis Angst – wuchs ins Unermessliche, sie war gespeist aus dem tiefen Wissen: Nein, sie kommen nicht wieder. Nie wieder. Niemand kommt je wieder. Doch ich habe keine Schuld. Ich werde grundlos verlassen. Warum?

Irgendetwas öffnete unbekannte Kanäle in mir. Ich musste heulen, toben, schreien. Von Tränen und Rotz überströmt durchlebte die sein Leid in allen Facetten. Ich war am Grunde angelangt. Ich spürte den Urgrund. Diesen unglaublichen Schmerz. Diese unerträgliche Angst: Verlassen zu werden.
Ich akzeptierte, willigte in das Schicksal ein, stellvertretend für Minimi.

»Gleich bin ich tot, gleich ist es vorbei.«

Um mich herum wurde es vollkommen dunkel. Ganz leise, eine nahezu absolute Stille, breitete sich aus, ich wurde ganz ruhig. Minimi schloss seine Augen. Gleich ist es vollbracht.

Warme und weiche Arme umfingen mich.
»Alles wird gut«, flüsterte eine sanfte Stimme über meine Schulter hinweg, »du musst jetzt keine Angst mehr haben.« Ich kannte diese Stimme, sie war mir schon so lange bekannt. Doch jetzt hatte ich das Gefühl, sie zum ersten Mal zu hören. Auch war die Akustik verändert, es klang nicht mehr so verhallt wie im Keller. Vorsichtig öffnete ich meine Augen, mein Blick war trüb wegen all der Tränen, die Minimi durch mich hindurch in die Welt geschickt hat. Das Bett war das Erste, was ich sah. Als nächstes erkannte ich meine Hand – sie war nicht mehr die geschundete, nicht mehr die von Minimi. Und ich erblickte den silberen Ring an meiner Hand – jenen Ring, der einst Versprechen war und von nun an mein Talisman.

Das dritte, was ich schemenhaft erkennen konnte, waren die zwei Gestalten im Türrahmen des Schlafzimmers: Herr Fäseke und Paul LeChien. Sanft und leise zogen sie die Tür zu, ließen mich alleine, lächelnd. Meine Angst war nicht weg, jedoch benannt. Das war mehr, als überhaupt zu hoffen war.
Ich schloss die Augen und erwachte.

02.05.2014

Fäseke erwachte aus unruhiger Nacht, er war schweißgebadet. Das Erste, was ihm durch den Kopf ging, war ein Gedicht von Wolf Wondratschek: »Es gibt nichts, was einen Mann einsamer macht, als das leise Lachen am Ohr eines anderen.« Paul LeChien, der am Fußende des Bettes Wache hielt, bemerkte den Anflug von Trauer in Fäsekes Gesicht. »Aber, es macht ihn auch freier, letztendlich«, sprach er mit absolut überzeugendem Ton.