07.05.2017

Lektion in Demut (4)
 
 
Ende Vierzig schätze ich sie. Das schließe ich aus den vollkommen grauen Haaren und den Falten an ihrem Hals, ein Anblick, der an Truthähne erinnert. Vor ihrer Brust, in diesem inzwischen omnipräsenten Baumwoll-, Jute- oder Leinensack, trägt sie wohl ein Baby, frisch geschlüpft und sehr, sehr klein, da nichts zu sehen ist von dem winzigen Wesen, für mich, in diesem Moment.
Spätes Mutterglück am Stück, denke ich, dort unterhalb meines offenen Fensters, an dem ich sitze, lese und rauche – was heutzutage unkorrekt bis unmöglich ist, beides – schnippe Asche in den Leipziger Himmel und imaginiere dabei Urnen, die über einem Ozean entleert werden.

Etwas fällt herab. Eine blaue Baby-Mütze. Verloren liegt sie auf dem Gehweg. Unbemerkt von der Mutter, nur bemerkt von mir. Ich will ihr zurufen, dass ihr etwas abhanden gekommen ist, in ihrer Glückseligkeit. Doch ich schweige, während Frau und Brustbeutelinhalt in die Straße einbiegen, deren Name an Frieden gemahnt, ich weiß nicht, warum ich das mache, bis sie schließlich aus meinem Blickfeld verschwinden und mir ein schlechtes Gewissen als Andenken hinterlassen.
Ich hätte eingreifen müssen, denke ich, handeln müssen, schließlich bin ich aufgrund meiner gottgleichen Adlerperspektive im Besitz eines Wissens, das anderen – im konkreten Fall hier: der Mutter – nicht zugänglich ist. Die Mütze. Das Baby. Der kalte Kopf. Leid, Schmerz. Und ich: dafür verantwortlich.

Nein, ich greife nicht ein. Etwas in mir fordert dies. Mit der Macht des Lächelns.

Passanten flanieren die Straße entlang. Jene mit Smartphone als Erweiterung ihres Ichs bemerken die Mütze nicht, die nun blau leuchtet, da sich die Sonne für kurze Augenblicke blicken lässt, ein Umstand, der mich traurig macht und nur gelindert wird durch die Tatsache, dass sie auf ihrem Weg das unschuldige Kleidungsstück nicht noch mit Füßen treten.

Es ist ein älteres Paar, das einen Unterschied macht. Er erklärt ihr gerade wortreich in sächsischem Englisch, was es mit Multiple-Choice-Fragebögen so auf sich hat, sie nickt voller Bewunderung über sein immenses Alltagswissens – dann fällt ihr Blick auf die Mütze. Kurzes Innehalten. Fragezeichen. Strategische Überlegungen. Emotionales Handeln. Also spießt sie die Mütze vorsichtig auf einen Ast der Buchshecke am Gehweg, gut sichtbar, in Augenhöhe, mehr kann man nicht tun, kann sie nicht tun, gerade jetzt. Alles andere wird sich ergeben und zeigen.

Nach einer Zeit, die ich nicht einschätzen kann, zeigt sich die späte Mutter. Sie kommt aus der Richtung, in der sie verschwunden war, statt ihres grauen Hinterkopfes sehe ich ihr Gesicht aus dem die Freude entwichen und sich zuckende Unruhe breit gemacht hat, Augen, die suchen und nichts finden, bis sie den Buchs streifen, dann die blaue Mütze, eine Erscheinung, die ihr Herz beruhigt. Ebenso beherzt greift sie zu.
Ich bekomme den flaumigen Kopf des Kindes kurz zu sehen, ein schöner Anblick, immer wieder, denke ich, bevor er blauwarm umhüllt wird, voller Vertrauen. Und alles ist gut.

03.05.2017

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