Our day will come

Während so genannte Künstler irgendwann einmal so ein bisschen den Arsch hoch und die Zähne auseinander gekriegt und dadurch einem pseudo-engagierten Mitläufer-Mob ihre echt total unvergessliche Gruppen-Experience in der Kölner Südstadt bereitet haben (von denen einige Genossen sicher noch ihren Enkel erzählen würden, hätten sie nicht bereits ihre Fortpflanzungsfähigkeit sozial-verantwortlich wegtherapiert) – ich meine so Bundesverdienstkreuz-bestückte Künstler-Typen wie Wolfgang „Dylan“ Niedecken – einer, der einst auf dicke Hose machte („Stollwerk!! Bollwerk!!“) und erst kürzlich dem Boulevardblatt „Express“ sein jugendliches Missbrauchstrauma offenbarte (offenbar, um auch etwas zur Missbrauchsdebatte im katholischen Puff beizutragen) – gibt es gottseidank inzwischen eine neue Generation von politisch aktiven Künstlern, die wahrhaft Eier in der Hose haben und Statements abliefern, die sich wirklich gewaschen haben.

Zum Beispiel die tamilisch-britische Sängerin Mathangi Arulpragasam – besser bekannt als M.I.A. Zusammen mit dem Regisseur Romain Gavras lieferte sie vor ein paar Tagen einen als Video getarnten Kurzfilm zu ihrem neuen Song »Born free« ab, der aufgrund seiner (vordergründig) verstörenden und unerträglichen Gewalt umgehend von YouTube „zensiert“ wurde (es ist ein Altersnachweis erforderlich, um den Film auf dieser Plattform sehen zu können).

In drastischen – immer aber allegorisch zu verstehenden Bildern – wird darin etwas konsequent zuende gedacht (und gezeigt!), das möglicherweise schon bald real werden könnte, beziehungsweise in viel subtilerer Weise bereits tagtäglich passiert: Neo-faschistische, rassistische Hetzjadgen auf Andersdenkende, in diesem speziellen Fall: Rothaarige. Systemimmanente Gewalt.

Sicher war die Zensur-Keule durch einen Giganten wie Youtube ein Stück weit im Vorfeld mit einkalkuliert – so etwas erzeugt im Netz ja schnell einen irren Buzz, sprich: Aufmerksamkeit.

Zurecht. Es kommt nicht oft vor, dass Künstler (sowohl M.I.A als auch Gavras) so eindeutig wie mutig Stellung beziehen, ihre Haltung ungeschminkt offenbaren und das Vehikel Pop-Kultur benutzen, um Ideen, Visionen und auch Ängste zu formulieren. Für den einen oder anderen ist dieses Video sicher shocking oder einfach nur exzessiv übertrieben. Mag sein. Das sind aber genau die Leute, die bereits lobotomiert und gebrainwashed im spektakulärem Konsumnirvana einbetoniert sind.

Alle anderen atmen erstmal tief durch, dann tief aus: Endlich!
Endlich wagt mal jemand einen Aufbruch!
Dieser Film setzt einerseits einen neuen Maßstab im Bereich Musikvideos (der zu lange schon zur verkaufsfördernden Maßnahme degeneriert ist), andererseits betritt Kunst wieder jenen Sektor, der bisher von tumben, konsequenzlosen und vordergründig merkantil orientierten Tabubrüchen überzogen war:

Ich meine natürlich gesellschaftliche Relevanz.

»Born free« macht wütend. Extrem wütend. Es sind nicht nur die Bilder, es ist insbesondere die Musik, die in einem aggressiven Electro-Punk-Staccato die Synapsen neu verdrahtet.

Wut ist das, was gegenwärtig am meisten fehlt. Gleichgültigkeit und Lethargie, wohin man auch blickt. Doch: Wut macht auch Mut, wenn richtig kanalisiert.

Genau darum geht’s: Nicht immer nur schlucken, ducken und vermeintliche Konkurrenten abfucken, um die eigene, kleine Scholle zu retten. Nein, endlich wirklich mal den Arsch hoch kriegen und sein vertrocknetes Maul aufmachen. Möglicherweise auch ein paar Schläge in die Fresse kriegen. Das ist Teil des Spiels.

Frage: Ist das alles noch Kunst?
Ja. Und zwar in Bestform. Wahre Kunst darf das nicht nur, sie muss.
Your day will come, artist. Thank you.
 
 
M.I.A – Born Free (Official Video, uncut)

Lesen. Aufgelesen.

Es ist ihr Rock, der mir zuerst ins Auge fällt – so ein Jeans-Rock, der fast bis zu den Knöcheln reicht, in verblichenem Indigo und aus einem Stoff, der an Zonen-Gabis Hemd erinnert – jenes auf diesem politisch alles andere als korrekten Cover-Foto der Titanic, vor zwanzig Jahren. Sie quetscht sich mir gegenüber in den Vierer des Regionalexpress nach Köln, schlägt die Beine züchtig übereinander, berührt dabei mein Knie mit ihren flachen, farblosen Schuhen und ich entdecke dunkelgraue Strümpfe, die gefühlt bis unter ihre Achseln reichen müssen. Vom Alter her ist sie undefinierbar. Sie ist wohl so alt wie ich, ihr Äußeres jedoch lässt sie an der Grenze zum Greisenalter erscheinen. Sie meidet meinen Blick, kramt in ihrer Jute-Tasche, während ich meinen MP3-Player auf das nächste Stück skippe – LCD Soundsystem, Drunk Girls, irrer Groove – und in die Sonne blinzle. Irgendwann schaue ich wieder in ihre Richtung, weil der Schaffner im Hintergrund erscheint – und habe plötzlich die Halluzination, ein teutonisches Exemplar der Mormonen-Sekte vor mir sitzen zu haben. Und tatsächlich, wie der Teufel es will: die Frau liest in einem Buch, dass Buch ist antik und schwarz, es hat einen abgewetzten Einband – und auf dem Falzrücken steht in Sütterlin-Schrift »Die Bibel«. Ich sehe ihre Augen langsam über die Worte wandern. Sie ist etwa in der Mitte der heiligen Schrift vertieft – irgendwo zwischen Hiob und Hohelied. Sie spürt nach einem Moment offenbar meinen Blick auf sich. Wirkt überrascht, dann gehetzt. Klappt die Bibel zu, stopft sie in die Tasche, steht übereilt auf und geht wortlos in ein anderes Abteil. Ich blicke ihr nach und frage mich, ob ich möglicherweise etwas falsch gemacht haben könnte.

Sein Maleranzug ist mit lustigen Farbsprenkeln übersäht. Mit einem leisen »Uff« setzt er sich mir gegenüber auf die Sitzbank in der Linie 16 Richtung Süden. Sein Gesicht ziert ein Dreitagebart, an den Füßen: die für seinen Job wohl obligatorischen Arbeitsschuhe. Sie sind verstaubt – genau wie sein Rucksack, den er sich nun auf den Schoß wuchtet. Ein neuer Tag auf irgendeiner Baustelle wartet wohl auf ihn. Nach einem Moment beginnt er in seinem Rucksack zu kramen – was kommt jetzt? Kölsch, Express? – nein, er fischt ein vergilbtes DTV-Taschenbuch heraus, zieht sehr sorgsam den Reißverschluss des Rucksacks zu und vertieft sich in die Lektüre. Das Cover des Buches kommt mir bekannt vor. Neugierig schaue ich genauer hin und entdeckte, dass es »Haben oder Sein« von Erich Fromm ist. Ich versuche in den Furchen seines Gesichts eine Erklärung dafür zu finden. Nichts. Ein ganz normaler Maler. Hinterm Barbarossaplatz streifen Sonnenstrahlen sanft seine Wangen. Und ich frage mich, ob nicht doch noch Grund zur Hoffnung besteht.

Er macht bestimmt in Marketing, dieser gegelte Typ im Casual-Business-Dress – erster Hemdknopf offen unter seinem Boss-Anzug – er steht breitbeinig im Restsonnenlicht am Nordwestausgang des Kölner Hauptbahnhofs, unweit der Junkie-Notstation, und schaufelt gelangweilt gebratene Nudeln aus dem Karton in seinen Mund – sie sind ausschließlich dekoriert mit leichtem Gemüse, sanft gedünstet, gesund. Sein Blick schweift weltmännisch über den tristen Vorplatz, wo es eigentlich nichts zu sehen gibt – die Junkies nahe des Bahnhofeingangs übersieht er dabei bewusst. Ihr Äußeres ist ja wenig appetitanregend. Ich stehe etwas abseits neben einer der großen Flügeltüren aus gebürstetem Metall, neben einem qualmenden Aschenbecher und rauche meine letzte Zigarette in dieser Domstadt, bevor ich in den Zug Richtung Provinz steige. Mit einer lässigen Geste drückt der Casual-Business-Mann seine Gabel in jenen Karton, den asiatische Schriftzeichen zieren. Ich habe keine Ahnung, was sie bedeuten. Vielleicht: „Dumme Deutsche versprechen gute Geschäfte“. Mit dynamischen Schritten kommt er mir entgegen, bleibt vor der Mülltonne neben dem Aschenbescher stehen und lässt den Karton sanft in den Abfallsack plumpsen. Ich erkenne, dass er mindestens die Hälfte der Mahlzeit nicht gegessen hat. Er wischt sich schnell mit einer Papierserviette über den Mund, greift innen ins Sakko, fischt ein iPhone raus und beginnt offensiv damit zu hantieren. Er ist stolz auf sein schickes Gadget und bedacht, dass auch jeder es sieht. Einer der Junkies, die nur ein paar Meter von uns stehen, blickt tatsächlich interessiert herüber. Dann kommt er auf uns zu. Aber nicht dem Mobiltelefon gilt sein Interesse, sondern dem Karton mit asiastischen Zeichen in der Mülltüte. Ohne groß zu zögern greift er in die Tonne, holt den Nudel-Karton aus dem Dreck, klappt den Deckel auf, fummelt die Gabel raus und beginnt, die Reste der Marketing-Menschen-Mahlzeit genüsslich zu essen.

– Ich habe ’nen Mordshunger, Alter!

Er schaut mich entwaffnend an, während er schlürfend die glitschigen Nudeln in seinen Mund zieht. Der Casual-Business-Mann macht derweil auf Autist. Oder ist vielleicht sogar einer. Die ganze Aktion hat er sehr wohl mitbekommen. Vielleicht ist auch die App, mit der er gerade rumspielt, nur so schweineinteressant. Es ist mir egal.
Ich frage den Junkie, aus dessen rotem Gesicht nun schmatzende Geräusche tönen, ob ich ihm eine Kippe drehen soll – quasi als Nachtisch. Er grinst und nickt hocherfreut.

Der neue Reichtum der Kommunikation

Beim täglichen Durchforsten der Feeds und Tweets kommen mir diese – inzwischen über 20 Jahre alten – Sätze plötzlich wieder sehr brandaktuell vor:

Die inhaltsleere Diskussion über das Spektakel, das heißt über das, was die Eigner dieser Welt treiben, wird so durch das Spektakel selber organisiert: man legt Nachdruck auf die enormen Mittel des Spektakels, um nichts über deren umfassende Verwendung zu sagen. So wird der Bezeichnung Spektakel oft die des Mediensektors vorgezogen. Damit will man ein einfaches Instrument bezeichnen, eine Art öffentlichen Dienstleistungsbetrieb, der mit unparteiischen »Professionalismus« den neuen Reichtum der Kommunikation aller mittels Mass Media verwaltet, der Kommunikation, die es endlich zur unilateralen Reinheit gebracht hat, in der sich selig die bereits getroffene Entscheidung bewundern läßt. Kommuniziert werden Befehle, und in bestem Einklang damit sind die, die sie gegeben haben, und auch die, die sagen werden, was sie davon halten.

Guy Debord: Kommentare zur Gesellschaft des Spektakels (1967,1988)

Big buzz for the brain-dead – 2.0. Wie gehabt.

Keine Cojones. Nirgends.

Wir haben immer noch keine neue APO. Wir haben eine gemachte Mitte, die nur den Ellbogen kennt. Wo jeder versucht, irgendwie zu überleben. Und Ethos erodiert.

»Schlechtes Benehmen halten die Leute doch nur deswegen für eine Art Vorrecht, weil keiner ihnen aufs Maul haut.«

— O-Ton Kinksi 1979 in einem Stern-Interview.

Gerade jetzt, nach über 30 Jahren, wieder sehr treffend. Doch stattdessen überall: Political correctness. Haltung war gestern. Niemand macht das Maul auf. Und spricht Klartext.

»Ich bin nicht der offizielle Kirchenjesus, der unter Polizisten, Bankiers, Richtern, Henkern, Offizieren, Kirchenbossen, Politikern und ähnlichen Vertretern der Macht geduldet wird. Ich bin nicht euer Superstar.«

Dies brüllt Kinski seinem Publikum 1971 zu. Buhrufe. Widerstand regt sich. Kinski wütet weiter:

»Haltet die Schnauze!«

Ein Zuschauer kommt auf die Bühne und wirft ein, dass Jesus damals sicherlich nicht gesagt habe, „Halt deine Schnauze“. Kinski wütend:

»Nein, er hat nicht gesagt »Haltet die Schnauze«! – Er hat eine Peitsche genommen und ihm in die Fresse gehauen! Das hat er gemacht! – Du dumme Sau!«

Wie ich ihn vermisse.
 
 
Klaus Kinski und das scheiß Gesindel

Life is real only then when I am

So fühlt sich das an: Ein Sonntag auf dem Land, mit Blick auf die Lärchen, die im Wind sanft schaukeln.

Eluvium: The Motion Makes Me Last

How does the motion make me last?
I shuffle forward and I’m back
I can be questioning my thoughts
but not looking for what I lack
what is it that has my mind so hypnotized?
shapes are for looking at
and their colours create my mood
I’m a vessel between two places I’ve never been

To sink further and reform design
creation as a pathogen
what’s more than subtle in these (heights?)
I know you’re looking forward to them
what is it that has my mind so hypnotized?
Evolving on a thought that you’ve half realized
life is real only then when I am but I am I am surprised
shapes are for looking at
and their colours create my mood
I’m a vessel between two places I’ve never been

Eluvium: The Motion Makes Me Last (aus: Similes, erschienen auf Temporary Residence Limited)
 
 
Eluvium – The Notion Make Me Last

Sehnsucht, nach dem »Davor«

Sie steht an der Kasse der Buchhandlung und wartet, dass sie an die Reihe kommt. Genervt ist sie: Sie will endlich ihr Buch bezahlen und nach Hause. Einkaufen ist Stress für sie. Nahkampf – alle anderen sind ihre Feinde. Sie stehen ihr im Weg, rempeln sie an, versperren den Blick auf die Auslage. Stören. Stinken. Ihre Nase nimmt plötzlich einen nicht einzuordnenden Geruch wahr. Der Geruch kommt von hinten. Sie weiß nicht, ob es unangenehm oder vielleicht sogar doch angenehm riecht. Sie denkt kurz nach, kramt in ihrer olfaktorischen Erinnerungskiste. Und kommt schließlich drauf: Alter Urin.

Sie wendet ihren Blick vorsichtig nach hinten und entdeckt einen Penner, der dicht hinter ihr steht und in dem Moment, wo sich ihre Blicke verschämt treffen, damit aufhört, mit halbgeschlossenen Augen den Duft ihrer Haare in sich aufzusaugen.

Er schaut zu Boden und dreht sich um. Geht schnurstarks auf eine Regalreihe zu, in denen Bildbände von fremden, fernen und heißen Ländern angeboten werden. Sie studiert seine äußere Erscheinung: Er hat schütteres, schulterlanges Haar, einen halbwegs gepflegten Vollbart. Seine grüne Cordhose ist vom Schmutz gezeichnet, sein Steppmantel hat blasse Flecken am Saum. Würde sie nur flüchtig hinschauen, sie würde in ihren Augenwinkeln bloß einen leicht heruntergekommenen Mitvierziger vor einem Buchregal wahrnehmen. Leicht heruntergekommen, okay, aber einer von ihnen. Doch sie sieht seine Hände. Seine Finger, die sich verkrampft zu einer Faust ballen, die kleinen Finger eigentümlich abgespreizt. Seine verschmutzen, eingerissen Fingernägel, unter denen sich der Dreck der Schildergasse wie ein Mal eingebrannt hat. Sieht, daß er zittert. Sieht seinen Blick auf die prächtigen Buchcover: Provence, Kenia, Kanada. Seine glasigen Augen, die über die Bücher huschen. So, als wolle er wirklich eines dieser teuren Bücher erstehen wollen.
 Sie beginnt zu phantasieren. Imaginiert sein Leben. Vielleicht war er damals in einem dieser fernen Länder? Damals, bevor ihm das Schicksal einen Strich durch die Rechnung gemacht hatte. Bevor er seine Frau, seinen Job und seine Wohnung verlor? Hat er Sehnsucht? Nach dem damals, dem davor? 
Sie empfindet auf einmal, ihr unerklärlich, so etwas wie Mitleid. Möchte diese arme Kreatur in ihre Arme schließen und flüstern: »Alles wird gut.«
Doch die nölende Stimme der Kassiererin reisst sie aus ihren Gedanken und fordert sie an die Reihe. Sie bezahlt stumm und geht nach Hause.

Und auch der Penner wird nach fünf Minuten die Buchhandlung verlassen, diese trockene und warme Oase, an einem Tag, an dem der Wind gewissenlos durch die Strassen jagt und die Kälte unaufhaltsam durch seine vom Schmutz gezeichnete Cordhose dringt.
Genauso unbemerkt, wie er gekommen war.

In einem Satz: Drauf geschissen

Unheimlich heimisch

Als ich die Stätte meiner Jugend besuchte, ziellos durch die Fußgängerzone schweifte, vorbei an glühweingestählten Gestalten, vorbei an Geschäften, die es jetzt nicht mehr gab, meinen Mantel zu geschlagen bis ganz oben wegen der Kälte, da entschied ich mich, dieses Haus aufzusuchen, in dem ich knapp zwei Jahre lebte, eine Zweiraumwohnung, jene letzte Bastion von Heimat in dieser seltsam verschämten Einkaufsstadt, im Zickzack näherte ich mich meinem Ziel, etwas zögerlich, das Viertel, in dem das Haus lag, wirkte ausgestorben, ja, regelrecht unbelebt, es war doch Freitagabend, unwillkürlich fragte ich mich, wer hier überhaupt noch wohnt – die gleichen, wie vor zehn Jahren wahrscheinlich, nur älter und zynischer sind sie geworden, dachte ich und rein äußerlich hatte sich nur wenig verändert – dann stand ich unvermittelt unterhalb dieser vier Fenster, sie waren erleuchtet und glotzten dumpf in die Dunkelheit, auf diesen knorrigen Baum gegenüber, den ich immer so mochte, aus einer Fassade, schick renoviert, mit Stuck und Chinarot gestrichen, völlig anders, wie mir das Haus in Erinnerung war, als mich urplötzlich dieser Drang zum Scheißen überkam, ein Druck der übelsten Sorte, einer, von dem du weißt, du hast keine Chance, du kannst ihn nicht ignorieren, mich ergriff sofort Panik, eine Unruhe aufgrund evidenter Ausweglosigkeit, halbherzig entschied ich mich, den Rückweg zum Wagen zu wagen, am anderen Ende des Stadtzentrums war er geparkt, okay, ich musste es wenigstens versuchen, passierte im Tippelschritt diverse Trinkhallen, Griechenrestaurants und Pilsschänken, deren Ausstrahlung geradewegs stuhlfördernd wirkte, kurz spielte ich mit dem Gedanken, eines dieser Etablissements zu besuchen, um meiner Notdurft nachzukommen, doch ich war schon zu weit gegangen, die Gaststätten boten mir keine wirkliche Chance mehr, mir blieb nur die Flucht nach vorn, wo immer das auch sein sollte, egal, ich war so was von glücklich, unvermittelt diese Transformatorstation am Rande des vergammelten Spielplatzes zu entdecken, zu erkennen: ja, sie bietet, dank der umgebenden Büsche und Bäume, die best geeignete Zuflucht für mein unheiliges Ansinnen, wie ein Kinderschänder huschte ich an den Wipptieren vorbei, entschwand im knirschenden Dickicht – es war unter Null an diesem Abend – schlich hinters Häuschen, blickte nach links zu einem Wohnblock mit synchron blinkender Weihnachtsdeko, nach rechts, auf einen Parkplatz, den nur Autos zum Schlafen benutzten, öffnete hektisch meinen Mantel, hockte mich wie ein kleines Mädchen mit dem Arsch knapp über das Laub, ein fetter Furz entfuhr mir, ich hörte endlich die Scheiße auf das gefrorene Blattwerk klatschen, eine Erleichterung bar jeder Beschreibung, endlich konnte ich wieder unverkrampft durchatmen, obwohl das, was ich absonderte, penetrant nach faulen Eiern stank – es musste raus, es half ja nichts, es tat so gut – doch mein Glück währte nur kurz, mir wurde bewusst, dass ich vergessen hatte, vorher zu überlegen, wie ich meine Rosette reinigen könnte, nach vollbrachter Tat, ein kurzer Schreck durchzuckte mich, es war kein fester Stuhl, er hatte eher die Konsistenz von Kinderkacke, die ich beherzt auf die Erde des nördlichen Stadtzentrums presste, mir wurde heiß und dann wieder kalt, nein, ich wollte alles, nur nicht stundenlang mit den Resten meines Geschäfts in der Hose durch die Gegend laufen, ich grübelte, zermarterte mir fieberhaft das restentleerte Hirn – dann kam mir triumphierend in den Sinn, dass ich stets ein fusselfreies Mikrofaser-Brillenputztuch mit mir rumschleppte – für alle Fälle, nicht wahr, man weiß ja nie – also griff ich entschlossen in meine rechte Hosentasche, fingerte das Tüchlein hervor, was in meiner hockenden Position ein verdammt schwieriges Manöver war, wischte mir, so gut es mit zwanzig Quadratzentimetern Nutzfläche geht, den Arsch ab, zog zögerlich den Slip hoch, dann die Hose, knöpfte schließlich, als wäre rein gar nichts passiert, meinen stilvollen italienischen Wollmantel zu und ging zurück auf die unbelebten Strassen.

Das Brillenputztuch würde ich eh nicht mehr brauchen, kam mir in den Sinn, ich sah eh alles schon klar – sonnenklar.

Healing force – part 5

Dieses Stück ist eine Kampfansage – ein Crescendo des Aufbruchs, wohin auch immer: Zur Freiheit, zu innerem Wachstum. Oder zum Zertrümmern all der Dinge, die einen kaputt machen.
Das Falsett des Sigur Rós-Sängers Jónsi umkreist in Variationen dieses Thema, wird unterfüttert von sakralen, subfrequenten Orgeln (die nicht nur entfernt an Meister Bach erinnern) – all dies steuert auf ein zertrümmerndes, aber erlösendes Drumfinale zu, das alles in seine digitalen Einzelteile zerlegt und Platz für Neues schafft. Stichworte: Asche, Phoenix, Wiederauferstehung.
Laut hören. Es wirkt.
Heute morgen im Zug hätte ich vor lauter Kraft sämtliche Mitfahrer knuddeln können.

You’ll know, when’s time to go on
You’ll really want to grow and grow till tall
They all, in the end, will follow

You’ll… know
You’ll… know
You’ll… know…

 
Jónsi: Grow Till Tall, vom Album »Go«, das Anfang April auf Parlophone veröffentlicht wird.
 
 
Jónsi – Grow Till Tall

Aus gegebenem Anlass: Der Sonne zu

Ja, man kann seine pubertäre Sprachlosigkeit natürlich bis zum getno raus rotzen, dabei obzöne und somit leere Bilder im Takt einer Stalinorgel abfeuern, Sex pro Seite, damit’s hoffentlich einschlägt und natürlich noch Giorgio Agambens Homo Sacer subtil einflechten und selbstverständlich nur so tun, als würde man mit dem als ob bloß kokettieren – dies alles gespeist aus dem Wunsch, die Unmöglichkeit von echten Möglichkeiten zu beklagen und die damit einhergehende Desillusion medienwirksam (und sicher auch selbstbefreiend) zu plakatieren. Dass egomane und sogenannte Kritiker dies immens becirct, ist dabei kalkulierter Kollateralschaden.
Zurück bleibt allerdings weiter nichts als: Dunkelheit.

Man kann dieses Leben aber auch einfach nur leben, es zumindest versuchen – und dabei sein Menschsein beherzt und mit allen noch verbliebenen Zähnen verteidigen, immer wieder aufstehen, wenn es einen in die Knie zwingt, trotzdem tapfer lächeln und anschließend genau davon erzählen. Jedoch leise, unprätentiös aber um so präziser. Vor allem aber: liebevoll.
Die Dunkelheit wird so natürlich auch nicht verscheucht. Zurück bleibt jedoch immer ein Funken, ein kleines, schwaches Licht.
Dafür aber eines mit einem umso nachhaltigeren und sehr sanften Fade-out.

Jörg Fauser wurde 1987 in einem echten Roadkill dahin gerafft, viel zu früh.
Gerade jetzt könnten wir ihn brauchen.

FRÜHLINGS-SZENE

Gegen Mittag ein Rettungswagen
in der Vorortstraße. Zuerst sind
immer die Kinder da. Dann
spähen die Eltern aus den Fenstern,
aus der Bäckerei, dem Blumenladen,
dem Damensalon: auf starren Fratzen
Rouge wie Schußwunden, auf verzerrten Lippen
Worte wie Blutstropfen. Sie wissen nicht

warum, aber wenn es am hellichten Tag
nebenan einen erwischt, bleibt an ihnen
ein Makel hängen, wie eine Spielschuld,
die sie nicht mehr abzahlen können,
und peinlich berührt fragen
sie sich: wird es mich auch
beim Mittagessen treffen? Wird
der Notarzt Kaugummi kauen
und werden die Kinder rufen,
kuck mal – die hat ja
ganz blaue Füße?

Sie sehen dann aus, als habe das Leben
sie nicht recht überzeugt, seine Torte,
seine Blumen, seine Dauerwellen,
seltsam! Dabei wirken die Häuser hier
so selbstbewußt wie die Autos
und der Rasen, so überzeugend
wie die Kinder und der
Rettungswagen, in den jetzt
das Bündel auf die Bahre
geschoben wird. Ein Wermutbruder

taucht plötzlich auf, winkt dem Bündel
mit seinem Flachmann und lacht: Hallo Hein,
hast du noch ein Bett frei? Der Wermutbruder
hat als einziger keine Angst vor dem Tod,
kein Wunder bei seinem Rausch, und sonst
spricht eigentlich nichts für ihn. Aber
er macht sich gut, um das Problem der Leere
zu lösen, das sich auftut, wenn der Rettungswagen
sein Opfer wegfährt, denn so ganz ohne Übergang

läßt es sich ja nicht zurückkehren zur Schlagsahne,
zu Fleurop und zur Trockenhaube, wenn man gerade
den Tod in Aktion gesehen hat –
live, in Farbe, im vierten Programm, gebührenfrei!
Aber da läßt sich dann der Wermutbruder, dieser
Penner, einfach ins Gras fallen, wirft seinen Hut
in die Luft als ob im Frühling das Leben nur
eine Lust und der Tod eine Selbstverständlichkeit
sei, und leert seinen Flachmann vor aller Augen!
Schamlos! Rettet die Kinder vor ihm! Rettet

das Mittagessen! Rettet euch selbst und rettet
den Tod! Und schon ist die Straße wie
ausgestorben, bis auf den Wermutbruder,
der immer noch auf dem Rasen sitzt
und auf seinen Hut wartet.
Wo bleibt denn der Hut?
Der Hut hängt im Baum.
Der Wermutbruder lacht,
umarmt den Baum, angelt sich
den Hut und stolpert stadteinwärts,
der Sonne zu.

9.–11. 3. 1979

— Jörg Fauser: Frühlings-Szene, in: Trotzki, Goethe und das Glück, Alexander Verlag, Berlin 2004

Dank an Alexander Wewerka für die freundliche Genehmigung, Fausers Gedicht hier zu veröffentlichen.

Der Job (re-revisited)

Politik ist mitunter poetisch; wahre Poesie letztlich immer auch politisch. Schön ist der Moment, wenn sich Kreise zufällig schließen und der stille Schrei unvermittelt ein lächelndes Echo aus der Ferne erfährt – aufmunternd und tröstend:

»Wir nehmen die Menschen weder isoliert voneinander wahr, noch getrennt von den anderen Wesen der Welt; wir sehen sie durch vielfältige Bindungen verknüpft, die zu verneinen sie gelernt haben. Diese Verneinung erlaubt es, die affektive Zirkulation zu blockieren, durch die diese vielfältigen Bindungen empfunden werden. Diese Blockade ist ihrerseits nötig, damit man sich an das neutralste, farbloseste, durchschnittlichste Regime der Intensität gewöhnt, dasjenige, das einen dazu bringt, sich Urlaub, die Wiederkehr der Mahlzeiten oder entspannte Abende als eine Wohltat zu wünschen – will sagen Dinge, die genauso neutral, durchschnittlich und farblos sind, frei gewählt. Von diesem Regime der Intensität, es ist in der Tat sehr verwestet, nährt sich die imperiale Ordnung.

Uns wird gesagt: Indem ihr die emotionellen Intensitäten verteidigt, die im gemeinsamen Experimentieren entstehen, widersprecht ihr dem, was die Lebewesen zum Leben verlangen, nämlich Annehmlichkeit und Ruhe – übrigens heute zu hohem Preis verkauft, wie jedes verknappte Lebensmittel. Wenn man damit meint, dass unser Standpunkt unvereinbar ist mit autorisierter Freizeit, dann könnten selbst die Wintersportfanatiker annehmen, dass es kein großer Verlust wäre, alle diese Skistationen abbrennen zu sehen, und den Platz den Murmeltieren zurückzugeben. Hingegen haben wir nichts gegen die Zärtlichkeit, die alle Lebewesen als Lebewesen mit sich tragen. „Es könnte sein, dass Leben etwas Zartes ist“, irgendein Grashalm weiß es besser als alle Bürger der Welt.

 
TIQQUN, in: Der Aufruf (2003)

Die Wette gilt. Und es ist egal, wer zuerst ankommt.