Where the hurt comes from

Sehr schöne Idee – sehr nachahmenswert: Man nehme ein x-beliebiges, verblödendes Wahlplakat/Werbeplakat und korrigiere es ein bisschen — mit Poesie.

So geschehen kürzlich in London: Das „Shoreditch Department of Advertising Correction“ zeichnet sich verantwortlich für diese kreative Aktion in London vom 19. April 2010.

Es waren übrigens Wahlplakate der Konservativen.

Mehr davon hier.

(via rebel:art)

Lesen. Aufgelesen.

Es ist ihr Rock, der mir zuerst ins Auge fällt – so ein Jeans-Rock, der fast bis zu den Knöcheln reicht, in verblichenem Indigo und aus einem Stoff, der an Zonen-Gabis Hemd erinnert – jenes auf diesem politisch alles andere als korrekten Cover-Foto der Titanic, vor zwanzig Jahren. Sie quetscht sich mir gegenüber in den Vierer des Regionalexpress nach Köln, schlägt die Beine züchtig übereinander, berührt dabei mein Knie mit ihren flachen, farblosen Schuhen und ich entdecke dunkelgraue Strümpfe, die gefühlt bis unter ihre Achseln reichen müssen. Vom Alter her ist sie undefinierbar. Sie ist wohl so alt wie ich, ihr Äußeres jedoch lässt sie an der Grenze zum Greisenalter erscheinen. Sie meidet meinen Blick, kramt in ihrer Jute-Tasche, während ich meinen MP3-Player auf das nächste Stück skippe – LCD Soundsystem, Drunk Girls, irrer Groove – und in die Sonne blinzle. Irgendwann schaue ich wieder in ihre Richtung, weil der Schaffner im Hintergrund erscheint – und habe plötzlich die Halluzination, ein teutonisches Exemplar der Mormonen-Sekte vor mir sitzen zu haben. Und tatsächlich, wie der Teufel es will: die Frau liest in einem Buch, dass Buch ist antik und schwarz, es hat einen abgewetzten Einband – und auf dem Falzrücken steht in Sütterlin-Schrift »Die Bibel«. Ich sehe ihre Augen langsam über die Worte wandern. Sie ist etwa in der Mitte der heiligen Schrift vertieft – irgendwo zwischen Hiob und Hohelied. Sie spürt nach einem Moment offenbar meinen Blick auf sich. Wirkt überrascht, dann gehetzt. Klappt die Bibel zu, stopft sie in die Tasche, steht übereilt auf und geht wortlos in ein anderes Abteil. Ich blicke ihr nach und frage mich, ob ich möglicherweise etwas falsch gemacht haben könnte.

Sein Maleranzug ist mit lustigen Farbsprenkeln übersäht. Mit einem leisen »Uff« setzt er sich mir gegenüber auf die Sitzbank in der Linie 16 Richtung Süden. Sein Gesicht ziert ein Dreitagebart, an den Füßen: die für seinen Job wohl obligatorischen Arbeitsschuhe. Sie sind verstaubt – genau wie sein Rucksack, den er sich nun auf den Schoß wuchtet. Ein neuer Tag auf irgendeiner Baustelle wartet wohl auf ihn. Nach einem Moment beginnt er in seinem Rucksack zu kramen – was kommt jetzt? Kölsch, Express? – nein, er fischt ein vergilbtes DTV-Taschenbuch heraus, zieht sehr sorgsam den Reißverschluss des Rucksacks zu und vertieft sich in die Lektüre. Das Cover des Buches kommt mir bekannt vor. Neugierig schaue ich genauer hin und entdeckte, dass es »Haben oder Sein« von Erich Fromm ist. Ich versuche in den Furchen seines Gesichts eine Erklärung dafür zu finden. Nichts. Ein ganz normaler Maler. Hinterm Barbarossaplatz streifen Sonnenstrahlen sanft seine Wangen. Und ich frage mich, ob nicht doch noch Grund zur Hoffnung besteht.

Er macht bestimmt in Marketing, dieser gegelte Typ im Casual-Business-Dress – erster Hemdknopf offen unter seinem Boss-Anzug – er steht breitbeinig im Restsonnenlicht am Nordwestausgang des Kölner Hauptbahnhofs, unweit der Junkie-Notstation, und schaufelt gelangweilt gebratene Nudeln aus dem Karton in seinen Mund – sie sind ausschließlich dekoriert mit leichtem Gemüse, sanft gedünstet, gesund. Sein Blick schweift weltmännisch über den tristen Vorplatz, wo es eigentlich nichts zu sehen gibt – die Junkies nahe des Bahnhofeingangs übersieht er dabei bewusst. Ihr Äußeres ist ja wenig appetitanregend. Ich stehe etwas abseits neben einer der großen Flügeltüren aus gebürstetem Metall, neben einem qualmenden Aschenbecher und rauche meine letzte Zigarette in dieser Domstadt, bevor ich in den Zug Richtung Provinz steige. Mit einer lässigen Geste drückt der Casual-Business-Mann seine Gabel in jenen Karton, den asiatische Schriftzeichen zieren. Ich habe keine Ahnung, was sie bedeuten. Vielleicht: „Dumme Deutsche versprechen gute Geschäfte“. Mit dynamischen Schritten kommt er mir entgegen, bleibt vor der Mülltonne neben dem Aschenbescher stehen und lässt den Karton sanft in den Abfallsack plumpsen. Ich erkenne, dass er mindestens die Hälfte der Mahlzeit nicht gegessen hat. Er wischt sich schnell mit einer Papierserviette über den Mund, greift innen ins Sakko, fischt ein iPhone raus und beginnt offensiv damit zu hantieren. Er ist stolz auf sein schickes Gadget und bedacht, dass auch jeder es sieht. Einer der Junkies, die nur ein paar Meter von uns stehen, blickt tatsächlich interessiert herüber. Dann kommt er auf uns zu. Aber nicht dem Mobiltelefon gilt sein Interesse, sondern dem Karton mit asiastischen Zeichen in der Mülltüte. Ohne groß zu zögern greift er in die Tonne, holt den Nudel-Karton aus dem Dreck, klappt den Deckel auf, fummelt die Gabel raus und beginnt, die Reste der Marketing-Menschen-Mahlzeit genüsslich zu essen.

– Ich habe ’nen Mordshunger, Alter!

Er schaut mich entwaffnend an, während er schlürfend die glitschigen Nudeln in seinen Mund zieht. Der Casual-Business-Mann macht derweil auf Autist. Oder ist vielleicht sogar einer. Die ganze Aktion hat er sehr wohl mitbekommen. Vielleicht ist auch die App, mit der er gerade rumspielt, nur so schweineinteressant. Es ist mir egal.
Ich frage den Junkie, aus dessen rotem Gesicht nun schmatzende Geräusche tönen, ob ich ihm eine Kippe drehen soll – quasi als Nachtisch. Er grinst und nickt hocherfreut.