27.11.2017

Enthüllung/Umhüllung
 
 
Ein Engel setzte sich heute Nacht an mein Bett, er hatte weder Flügel noch ein Geschlecht, er war einfach da, als ich ihn brauchte, vielleicht hatte ich ihn gerufen, ich weiß es nicht. Leise legte er sich neben mich, schmiegte sich an mich, nahm mich zärtlich in den Arm, er spürte, dass ich traurig war und wollte mich trösten. Ich ließ es zu, es fiel mir schwer, er streichelte meinen Rücken, meinen Kopf und ich musste weinen.

»Wenn du nur sehen könntest, was ich sehe«, flüsterte er ganz leise und mein Schluchzen wurde lauter.

»Du würdest für andere sterben, so sehr liebst du sie. Dein Herz ist groß, weil du um das Fehlen von Zuneigung, Verständnis und Annahme nur zu gut weißt«, sprach er. »Und um den Schmerz und das Leid, die daraus entstehen«, ergänzte er nach einem Moment.
Er suchte meinen Blick, vorsichtig, ich floh seine Augen, ertrug die Nähe nicht.

»Du bist ein so liebenswerter Mensch. Und du weißt es nicht. Du willst es nicht wissen. Es macht dir Angst. So, wie deine Verneinung dessen wiederum den Menschen Angst macht, weil du keine Verantwortung übernimmst – für diese Qualität, aber hauptsächlich nicht für für dich.«

Die Zärtlichkeit des Engels war entwaffnend. Mir blieb keine Wahl, ich musste sie zulassen.

»Ich hatte Angst, dir dies zu offenbaren. Was für ein Geschenk du bist, was für einen Unterschied du machst, in der Welt«, sagte er nach einen kleinen Pause.

»Weißt du auch, warum? Ich hatte Angst, dich zu verlieren. Ja, so ist es. Denn: Würdest du erkennen, wer du bist, was du bist, wie du bist – so großartig, so einmalig, so wunderbar – dann würdest du dich möglicherweise von mir abwenden. Weil du erkennst, dass deine Liebe nicht weniger wird, sondern mehr, wenn du dir erlaubst, sie zu teilen. Das dachte ich, oh ja! Das jedoch war allein meine Angst. Du kennst sie ebenfalls gut. Aber: Es ist nicht deine, es darf und muss nicht deine sein.«

Ich erlaubte mir, seinen Blick zu erwidern. Was ich sah ließ mich ruhig werden, mein Atmen erfolgte wieder von selbst, der warme Geruch dieses Wesens neben mir umhüllte mich wie eine sanfte Decke.

»Nun bin ich mir sicher, dass du mich nicht enttäuscht. Deshalb schenke ich dir diese einfache Wahrheit. Um dich und mich zu erlösen. Es ist ganz einfach. Lass es zu.«

Er küsste die wunde Stelle über meinem linken Auge, es brannte einen kurzen Moment, dann ließ die Spannung an dieser Stelle nach, die Haut wurde glatt und der Engel verschwand so überraschend, wie er gekommen war. Ich spürte einen kleinen Windhauch. Vielleicht besaß er ja doch Flügel.

Ich schlief ein und erwachte irgendwann am nächsten Morgen. Alles war wie immer. Bis auf jene Stille, so betörend laut und schön, dass es keine Worte für sie gibt. In mir.
 
 
Devon Welsh – Don’t Let Me Hide