09.07.2015

Laufen lernen in Leipzig. Wackelige Wacke, wohin man tritt, kein Stein ist gleich hoch und stetes Stolpern die Folge. Wenn man unachtsam ist.
Wo ich her komme, da hat alles ein definiertes Niveau. Dort schlafwandelt man regelrecht auf den Trottoirs.
Hier heißt es »Augen auf« mit bewußtem Bodenkontakt. Sonst fällst du bös’ auf die Fresse.
Da, wo ich her komme, ist die Erde flach, dort lief ich unbemerkt ins Leere.

08.07.2015

Ich mache keinen Hehl daraus, dass ich gerne in der zweiten Reihe stehe. Ich bin keine Rampensau und weiß um das richtige Timing, das hat mir bisher immer prächtig geholfen, wenn es darauf ankam.
Kürzlich brachte ich im Ginkgo mein leeres Bierglas zurück zur Theke. Dies ist an der linken Seite des Ausschanks erwünscht, denn es ist nahe der Spülbecken. Rechts an der Theke werden die Bestellungen aufgegeben.
Ein stiernackiger Bayer kam kurz nach mir mit einem Bündel leerer Gläser hinzu. Doch, statt, wie ich, seine Gläser am dafür vorgesehen Ort abzustellen, marschierte er stracks zur rechten Seite, knallte, was er in den Händen hielt, polternd auf das Holz und bestellte lautstark vier Diesel, einen davon mit mehr Cola als Bier, drei Weizen und ein Pils.
Ich sagte nichts. Zwar ärgerte ich mich, doch jetzt hier Fuzz zu machen, das war es wirklich nicht wert. Der Abend war bisher schön.

Die Frau hinter der Theke wandte sich über die Zapfanlage dann jedoch: an mich.
»Noch ein Pils?«, fragte sie lächelnd.
Ich lächelte zurück, nickte und schwieg.

Der Bayer, dem sehr wohl klar war, dass seine Aktion nicht die feinste war, versuchte scheinheilig, seinen roten Hals aus der Schlinge zu ziehen.
»Hob’ I mi etwoi vor gdränglt«, sagte er und es klang nicht wie eine Frage.

»Nicht ich habe das entschieden«, antwortete ich und mein Blick suchte die Augen der Kellnerin.

Sie zwinkerte mir wissend zu.
Dann reichte sie mir das Bier.
Es war perfekt gezapft.

07.07.2015 – Sonntagskind

Son of the holy nine, I prophecy
Well, I’m an arcadian boy, a sun child
From a royal line, in gold and raggedy clothes
Well, I’m a soulful knight, knight of the holy rose
Et je suis enfant de la guerre
Well, I’m a lonesome boy, poor boy
Et je suis le roi des voleurs
Well, I’m a sacred child, sun child
— The Silencers, aus: Blues for Buddha (1987)

Er kam aus Prag. Und dies satte vierzig Minuten zu spät. Der Preis für die Fahrkarte war in Ordnung, deshalb nahm ich das in Kauf, rauchte eine weitere Zigarette und beobachtete dabei das Schattenspiel der untergehenden Sonne zwischen Konsummagistrale und Pullman. Es war ein brutal heißer Tag und diesig und das Spiel verlief daher in drei Ebenen.

City-Night-Line Prag-Zürich. Der Waggon, in den ich einsteige, ist ohne Zweifel kurz vor der Verklappung, sein Baujahr irgendwas Anfang der Sechziger. Nicht ganz mein Jahrgang. Als ich die Tür öffne, knackt hörbar meine Schulter, nicht das Scharnier. Drinnen ist die Luft betonhart gestapelt, sämtliche Bewegungen erfolgen in einem gallertartigen Plasma aus Schweiß, Bier- und Pissegeruch. So habe ich mir stets Zugfahren in Indien vorgestellt. Die Bahn präsentiert es mir heute in Deutsch-Südost ohne versteckte Zusatzkosten. Vielleicht ein Sonntags-Upgrade für Vielfahrer. »Gibt es dazu empirische Studien: Glücksvermögen abhängig vom Wochentag der Geburt?«, frage ich mich, als mir einfällt, dass ich ein Sonntagskind bin.

Abteile statt gewohnter Großraumfolter. Ein schmaler Gang führt von Tür zu Tür. Es gibt Vorhänge, deren Farbe sich mit zugekniffenen Augen als taubengraublau zu erkennen gibt. Ein Abteil ist leer bis auf die Galerie geleerter Budweiserflaschen. Ich zähle 12 und staune, dass sie auf das kleine Tischchen über dem Heizungsregler passen.
Obwohl sämtliche Fenster des Waggons bis zur unteren Arretierung geöffnet sind, rührt sich das Plasma nicht von der Stelle. Ich gebe den Widerstand auf und lasse mich in einen Sitz fallen. Er ist um Längen weicher und bequemer als diese Business-Beichtstühle im ICE. Diese hier haben die Haptik eines Clubsofas aus den 70ern. Schön puffig und speckig. Und sie haben garantiert viel erlebt, gehört und ertragen müssen. 50 Bahnjahre lang wurden sie mit Leben, Fürzen, Tränen und Hektolitern Tabakqualm gebeizt und atmen nun eine natürliche Patina aus devoter Loyalität, die kein hippes Vintage-Startup aus Plagwitz oder Neukölln je rekonstruieren könnte. There‘s no App for that. Sorry guys, Aura geht anders und kommt nicht aus der Tüte, sprach Benjamin.

Ich schließe die Augen und sehe die Müdigkeit meiner Beine, die mich heute 30 Kilometer ohne Murren durch Wälder hindurch, an Sandsteinfelsvorsprüngen und Bächen entlang getragen haben. Gestern noch hatte ich Angst – vor der Hitze – und wollte die Wanderung verschieben. Nun bin ich dankbar, meinen Ursprungsplan nicht verworfen zu haben. Denn genau dann, wenn der Weg aus den geschützten Bereichen in offenes Gelände überging, war immer ein Wölkchen da und spendete kühlend Schatten. Oder ein unerwartetes Lüftchen kam auf und herbei und schlug lautlos eine frische Bresche in die gnadenlose Hitzewand.

Als ich die Augen öffne sitzen zwei weitere Fahrgäste im Abteil. Braungebrannt, dreitagebärtig, verschwitzt, müde und zufrieden. Zu sagen gibt es nichts. Zu fragen auch nicht. »Noble Silence« nennen das die Brownies im fernen Waldbröl. Dass dieses Provinznest, in dem die Buddhisten ihren Klostersitz haben, sich als Hauptstadt des deutschen Volksliedes geriert, gibt diesem Gedanken eine ironische Würze. Ich streife ihn ab – genau wie den Schweiß auf meiner Stirn und frage mich, warum dieser Zug noch nicht rollt, trete ans Fenster, um einen prüfenden Blick zum Rangierer auf den Gleisen zu werfen, der unsere Waggons abgekoppelt hat, damit sie von einer tschechischen Lok aus der Baureihe E499 in den Sonnenuntergang gezogen werden. Die blaue Lokomotive hat knapp 40 Jahre auf dem Buckel und wird die gute Stunde, die ich nach Hause brauche, auch noch überstehen.
Als der Rangierer, dessen orangefarbene Arbeitskleidung überzogen ist mit Orden aus Schmierfett und Rost, meinen Blick auf sich spürt, zwinkert er mir zu, zieht eine Taschenlampe hervor, dreht seinen massigen Körper Richtung Zugkopf, schaltet die Lampe ein, zeichnet damit eine Acht in den Abendhimmel und mit einem sanften Ruck setzt sich der Zug in Bewegung.

Ich bleibe am Fenster stehen, lehne mich vorsichtig hinaus – nicht zu weit, ich befürchte von einem Mast am Gleis enthauptet zu werden und derart aus dem Leben zu treten ist reichlich grotesk. So einen Abgang billige ich selbst mir nicht zu. Mein Leben ist üppig gespickt mit multiplen Defiziten. Stillosigkeit gehört allerdings nicht dazu.

Die Geschwindigkeit des Zuges ist größer geworden, der Bahnhof liegt bereits weit hinter uns, wir erreichen die Felder der urbanen Interzonen, die Sonne zählt bis zehn, winkt ein letztes Mal Gutnacht, da eine Stileiche unseren Blickkontakt versperrt, dann ist sie verschwunden und der Horizont glüht nun noch roter und fetter, Staub flimmert in entsättigtem Dunst während der Fahrtwind in regelmäßigem Rhythmus hart aber nicht unsanft auf mein Gesicht einschlägt. Es ist wie eine Massage.

»Flapp-flapp, flipp, flapp-flapp«, macht die Abendluft in meinen Ohren, dabei links mehr als rechts. In meiner Nase explodiert der Sommer. Ich rieche goldenen Weizen, stolze Sonnenblumen, saftigen Raps und sich selbst verschenkenden Mohn. Als mir eine Gewitterfliege hinter die Brille geschleudert wird, schließe ich die Augen und warte, bis das Tier, das sicher ebenso überrascht ist von dieser Karambolage wie ich, sich selbst aus dieser misslichen Lage befreien kann. Ich hätte sie instinktiv mit einem Finger wegwischen – und töten – können. Aber auch für diese arme Kreatur ist heute Sonntag. Und vielleicht ist ihre Lebensspanne so kurz bemessen, dass sie einen weiteren Sonntag nicht vorsieht.

Die Augen lasse ich geschlossen. Ich sehe genug. Erst sind es einzelne Bilder, wie stills aus einem Film, asynchrone Fragmente und unverständliche Details, als hätte der Cutter die Filmstreifen durcheinander gebracht. Aus dem Wind kommen leise, dann lauter werdend, Stimmen hinzu. Zunächst ist es ein Gemurmel, der Kakophonie eines Markplatzes oder Schwimmbades recht ähnlich. Plötzlich setzt Musik ein. Eine Gitarre. Ein oszillierender Zweiviertel-Takt, möglicherweise eine Polka. Der Cutter legt da ja einen echt schrägen Soundtrack an, überlege ich und muss innerlich laut lachen – verstumme aber abrupt, als sich zur Musik melancholischer Gesang fügt. Er ist fremd, in seiner Sprache unverständlich, vielleicht polnisch oder russisch, jedoch selbst ohne Worte zu erfassen, wenn man die Schallwellen unvoreingenommen in sich dringen lässt. Und plötzlich bin ich siebzehn.

Warschau-Paris-Express. Ein Nachtzug. Fünfmal die Woche machte er um kurz vor Mitternacht halt im Hauptbahnhof jener gesichtslosen Einkaufsstadt, die damals noch Ruß und Kohlenstaub umhüllte wie eine zweite Haut und mir Heimat bot, so lange es nötig war. Das, was man »Zuhause« nennt, fand ich dort nicht, schon früh begann ich dies woanders zu suchen, ich träumte vom Reisen, von fremden Städten, neuen Eindrücken und Luft zum atmen, Luft, die anders roch, als unter diesem stummen Deckmantel, der mir allmählich den Hals zuschnürte.

Es war der einzig freie Platz im Zug. Es war warm. Sie hatten die Vorhänge, die das Abteil zumindest optisch vom Gang abtrennen, zugezogen. Ich war jung und wollte nach Paris. Ich wollte die Seine sehen und den Père Lachaise, am Place de la Contrescarpe in einem Café sitzen, Pernod trinken und schauen, ob noch etwas da war von Ernest, der einst versprach, diese Stadt sei ein Fest fürs Leben. Als ich den Nachtexpress betrat, wusste ich noch nicht, dass ich zwei Abende später eine mir wildfremde Frau, die obendrein vielleicht zehn Jahre älter war als ich, in einem billigen Bistrot am Rande der Rue Mouffetard auf Englisch nach einer Schlafmöglichkeit bei ihr ansprechen würde, mit der Begründung, sämtliche Betten in den Jugendherbergen der Stadt wären belegt, ich wüsste nicht wohin, log ich, denn ich wollte nur Geld sparen – und sie mir tatsächlich anbot, auf französisch, was ich zwar verstand, aber nicht sprechen konnte, bei ihr zu übernachten, sie würde in drei Stunden noch mal in dieses Lokal kommen, um mir ihren Schlüssel zu geben, zur vereinbarten Zeit auch wirklich erschien, mir dann aber unter Tränen, die ich nicht trösten konnte, offenbarte, dass in ihrem Duplex ein Wasserrohr geplatzt sei, ich demnach nicht bei (mit?) ihr schlafen könnte und ein billiges, verranztes Hotel am Rande der Universität auftat, das ich am nächsten Morgen mit gellenden Rückenschmerzen und ungeduscht, da nur mit Gemeinschaftslavabo auf dem Gang ausgestattet, verlassen würde. Im Grunde wusste ich damals sowieso kaum etwas, obwohl mein Kopf vor totem Wissen zu platzen drohte und diese absurde Tatsache mich fast in den Wahnsinn trieb. Ich war siebzehn, dürstete nach Freiheit und Unabhängigkeit. Nur das ahnte ich zu wissen. Dass man dies Sehnsucht nennt erkannte ich erst später. Letztes Jahr, um genau zu sein.

Drei Männer und eine Frau saßen in dem Abteil, ihr Alter schätzte ich auf Mitte Vierzig, sie schienen als Gruppe zu reisen, denn die Atmosphäre zwischen ihnen war freundschaftlich, ja fast schon familiär. Das Licht war sanft gedimmt, es brannte nur die Notbeleuchtung, statt Gesichter sah ich daher nur Silhouetten. Ich trat ein und fragte schüchtern auf Deutsch, ob einer der Plätze noch frei sei.
»Bądź naszym gościem!«, antwortete der Mann am Fenster mit sonorer Stimme, ich hatte keine Ahnung, was seine Worte bedeuteten, doch das helle und freundliche Strahlen seiner Augen aus einem runden Gesicht mit graugesprenkelten Bartstoppeln machte mir klar, dass ich erwünscht war und mich setzen sollte. Und zwar ihm gegenüber. Aus dem weit geöffneten Fenster drang das Gemurmel der abendlichen Stadt, Abgase von Dieselloks mischten sich dazu, es war Juli, warm und stickig. Es roch obendrein nach Zwiebeln, Gürkchen, Wurst und Bier. Meine Reisepartner hatten ein üppiges Reisepicknick vor sich ausgebreitet, dies überall verteilt im Abteil.
Sechs Stunden und zehn Minuten dauerte die Fahrt nach Paris, mein Frühstück um halb sieben würde ich mit den Straßenfegern in einem billigen Stehcafé, am Montmartre vielleicht, einnehmen. Ich würde diese paar Stunden sicher überleben und nahm Platz. Ein Pfiff ertönte laut unter den Dächern des Bahnhofs, der Zug setzte sich langsam, ganz langsam, in Bewegung und dies tat auch mein Leben, es fragte mich glücklicherweise nicht um Erlaubnis.

Gesprochen wurde wenig und wenn, dann nur leise. Ich verstand nichts von dem, was sich die vier fremden Menschen erzählten. Der Ton ihrer Stimmen jedoch war angenehm sanft und weich und fügte sich harmonisch in das regelmäßige Ratatt-Ratatt der Räder auf den Gleisen, die damals oft noch unverschweißte Stöße besaßen. Fahrtwind wehte in das Abteil und mir durchs Haar, der Schweiß auf meiner Kopfhaut wurde imprägniert vom Duft der Obstbäume und Linden, an den wir vorbei fuhren. Draußen war es Nacht, hier und dort waren entfernt Lichter von Höfen, Laternen und Industriegebäuden zu erkennen. Wehrlos ließ ich mich von alldem einlullen, schließlich gänzlich fallen und dann schlief ich ein.

Geweckt wurde ich von einem lauten, stoßartigen Lachen, das einem Wechsel aus bronchialem Husten und panischer Schnappatmung gleichkam und dem penetranten Gestank einer billigen, überlagerten Zigarre. Vorsichtshalber stellte ich mich weiterhin schlafend, öffnete ein Auge gerade soweit, dass niemand merkte, dass ich wach war, sich mir aber eine Chance bot, einen Blick auf den vermuteten Hünen rechts neben mir zu werfen. Es war ein alter Mann, er muss irgendwo in Belgien zugestiegen sein, wir durchfuhren bereits die Picardie, hinter dem Fenster erkannte ich im blassen Mondlicht die unendlichen Weizenfelder und auch Emaille-Schilder, die für Byrrh warben. Er saß vorher noch nicht in diesem Abteil, sicher weit über Siebzig war er, zu meiner Überraschung mit hagerem Körperbau und silbergrauem, nein eindeutig weißem, leuchtendem Schopf auf dem Kopf. Meine Angst war völlig unbegründet, ich richtete mich in meinen Sitz auf, der Nacken schmerzte, da ich in unbequemer Position eingenickt war.

»Bon soir, monsieur!«, hörte ich den Alten sagen, es war nicht frotzelnd oder provozierend gemeint, es klang fröhlich. Eine Fahne von Obstbrand und kaltem Rauch waberte mir entgegen, ich hielt instinktiv den Atmen an, was meinen neuen Sitznachbarn offenbar vermuten ließ, ich wäre des Französischen nicht mächtig.

»Ah, pardon, vous êtes allemand? Deutschland?«, fragte er neugierig, stupste mich dabei freundschaftlich an, während ich mich fragte, was ihn so zielsicher zu dieser Vermutung brachte, ob man es mir vielleicht ansah, dass ich Deutscher bin, was es konkret war, das als unsichtbares Zeichen diente und dass ich es hasste, derart eindeutig, wenigstens auf nationaler Basis, definiert zu werden. Ich nickte stumm.

»Ah, Deutschland, mon amour! Du Glücklicher! Schiller, Heine, Kant und Hegel! Der Rhein, die Elbe! Mozart nicht zu vergessen und auch der Wein! Fußballgötter habt ihr! Kruppstahl und —«.

»Führer.«

Die begeisterte Eloge des alten Mannes wurde durch diesen tonlos eingeworfenen Namen jäh gestoppt, ausgesprochen hatte ihn die Frau mir gegenüber. Doch statt betretenem Schweigen und Bitterkeit: Erst fünf Blicke, die sich wissend kreuzen, dann ein derart lautes und deftiges Lachen, dass die waschküchenartige Luft unseres Abteils vor Ausgelassenheit vibrierte. Ich verstand die Welt nicht mehr. Das tat ich zwar vorher auch kaum, jetzt hingegen wurde es mir schlagartig bewusst. Ich schämte mich.

»Na zdrowie! Vergangenheit ist vergangen. Auf das Leben, meine Freunde!«
Der Alte hielt seinen Plastikbecher triumphierend in die Höhe, er war bis fast zum Rand gefüllt mit offenbar selbstgebrannten Schnaps, ich hatte gerade erst neben ihm eine Flasche mit handgeschriebenem Etikett entdeckt. Die drei Männer und auch die Frau füllten nun ihrerseits die Becher nach, entweder mit Wodka, polnisches Erzeugnis, oder mit dem tiefroten und undurchsichtigen Wein, den sie mit sich führten – zwei Flaschen hatten sie während meines Nickerchens offenbar schon geleert, eine stand auf dem Boden, die andere lag in der Gepäckablage. Die Bierflaschen zählte ich nicht.
Es waren dann alle so weit, um gegenseitig anzustoßen, doch der alte Mann hielt inne und blickte mich überrascht von der Seite an.

»Der Junge hat ja nichts zu Trinken! Na, so was! Schenkt ein, Freunde! Schnell, schenkt ein, so geht das nicht!«

Unversehens hielt ich einen Rotwein in der Hand, die Frau hatte die letzten Tropfen des Bechers, der offenbar schon in Gebrauch war, schnell mit einem Wisch ihres Finger gereinigt, aufgefüllt und mir lächelnd entgegen gehalten. Zweifel und Unsicherheit spielten sich in meinem Kopf derweil strategisch Bälle zu, doch ich gab mir einen mutigen Ruck und wischte dieses Gedankenbataillon annähernd so energisch hinweg, wie die Frau eben meinen Becher gesäubert hatte. Nadéshda war ihr Name, sie verriet ihn mir, als wir torkelnd auf den Bahnsteig des Gare du Nord standen, viertel nach sechs, und uns zur Verabschiedung umarmten. Sie verriet mir ihren Namen, indem sie ihn flüsternd in mein Ohr hauchte und es dann mit einem mütterlichen Kuss verschloss. Vielleicht ist mir ihr Name bis heute genau aus diesem Grund in Erinnerung geblieben.
Es blieb auch nicht mein letzter Wein, den ich in den folgenden viereinhalb Stunden trank, es kamen einige Obstler hinzu und unzählige Wodkas, drei Brote mit Knoblauchwurst, ungezählte Dillgurken, ein paar Happen Dörrfleisch und fremd schmeckende Süßigkeiten. Zwischendurch haben wir geraucht, unverschämte Unmengen geraucht, damals durfte man das noch, die Luft in unserem Abteil war blaumilchig und würzig, trotz des geöffneten Fensters, wir haben geradebrecht auf Führer-komm-raus, uns trotz aller Sprachunterschiede, die damit einhergehen, dass sechs Personen aus vier Nationen und Kulturen zusammen kommen, herztief verstanden, wir haben gelacht, bis uns die Luft weg blieb, wir hatten alle Sitze in Liegeposition gefahren, lümmelten nun wie frischgeschlüpfte Studenten in einer Sitzlandschaft aus Lebensmitteln, Getränken, Tüten, Taschen, Koffern, Jacken, Büchern – und Gemütlichkeit. Pjotr, der mich sein Gast sein ließ, als ich das Abteil vor Mitternacht betrat, hatte eine Gitarre dabei, er sang Lieder aus seiner Heimat, die irgendwo am Bug lag, es waren Lieder voller Melancholie, in denen es darum ging, dass jemand sein Dorf verlassen musste und die Liebe hinter sich; oder sehnsuchtsvolle Lieder, die eine sprachlosmachende Schönheit der Natur beschworen; und auch fröhliche Stücke, Polkas und Walzer, die den Rausch und die Lust feierten.

Ich war siebzehn und lernte in diesen kurzen Stunden so viel vom Leben und über das Leben, wie nie zuvor und kaum jemals wieder, erst wieder bei diesem gewaltigen Beben Jahrzehnte später, das ich spürte, als dieser junge Mann aus Indonesien mir die Augen sah. Ich war der Jüngste in unseren Abteil, einem Ort, der im Nachhinein wohl eher als eine Raum-Zeit-Enklave zu erklären ist, in dem die Gesetze der »Realität« anderen Regeln folgten und Engel schon mal alkoholrote Nasen haben. Diese fünf fremden Menschen, denen ich vorher nie begegnet war und nachher nie mehr bin, lehrten mich, im Moment zu leben, selbst wenn es töricht scheint, sie lehrten mich verzeihen und Vergangenes anzunehmen und dass selbst tiefster Hass zu überwinden ist. Jossip, der alte Mann mit dem Selbstgebrannten, musste als Jude vor den Nazis aus der Ukraine nach Antwerpen fliehen, er hat in seinem Leben alle und alles verloren, nichts, was ihm wichtig war, hatte je Bestand. Seine Augen hingegen ließ er nie trüb werden, sie waren wach und himmelweit offen, für alles Gute und Schöne, das trotzig und oft auch unter einer schleimigen Schicht Dreck bedeckt, jedoch immer und immerwährend vorhanden bleibt.
Als ich um sieben und stark angetrunken den Boulevard de Magenta entlang ging, als die Lust auf Frühstuck und Café abgeebbt und das Einzige, was ich nun brauchte, ein Bett war, zumindest eine Möglichkeit, mich etwas hin zu legen und auszuruhen, da sah ich die Welt und die Menschen anders als am Tage vorher. Dies lag nicht am Alkohol oder der vergangenen Ausgelassenheit. Es lag in meinem Herzen.
Als ich los fuhr, gestern kurz vor Mitternacht, wünschte ich mir nichts sehnlicher, als Paris zur Heimat. Doch ich erkannte zwischenzeitlich, dass ich ein Zuhause nur in mir selbst finden kann. Und dass es möglich ist. Immer.

Ein langgezogenes Quietschen mischt sich tröpfchenweise in diesen Ozean aus Erinnerung und Gegenwart, schwillt solange an, bis die Zeiger der Zeit blitzartig um 30 Jahre vorgestellt sind und die Vergangenheit in den Hintergrund tritt. Ich öffne die Augen, ich stehe weiterhin am offenen Fenster, in der Ferne sind die ersten Lichter der Stadt zu erkennen, die mein vorläufiges Ziel sein wird. Kein Fahrtwind mehr. Der Zug steht. Und zwar auf freier Strecke. Keiner der Mitfahrer weiß den Grund für diesen außerplanmäßigen Halt. Nach ein paar Minuten erscheint die Zugbegleiterin, mit einem entwaffnenden Grinsen geht sie durch den Waggon und klärt jeden persönlich auf, warum es nicht weiter geht.

»Lok is’ kaputt.«

Lautes Lachen ist in regelmäßigen Abständen zu hören, es wandert mit der Zugbegleiterin von Abteil zu Abteil. Ihre kurze Story ist gut. Mal keine Person im Gleis. Die arme tschechische Lok aus der Baureihe E499 hat doch noch schlapp gemacht, nach 40 Jahren, kurz vor dem Ziel. Irgendwie schon tragikomisch.

Die Stimmung unter den Mitreisenden jedoch ist sehr entspannt, kein Groll, kein Genöle. Es werden Pläne geschmiedet, den Zug heimlich zu verlassen und das Fahrrad vorsichtig über die Gleise zu schieben, um dann den Radweg, der in der Nähe zu erkennen ist, zur Fahrt in die Stadt zu nutzen. 15 Kilometer, schafft man in 20 Minuten. Ich biete meine Hilfe an, werde notfalls die sympathische Schaffnerin ablenken, becircen und auch überblicken, ob die Gleise frei sind für ein solch wagemutiges Manöver.
Jemand reicht mir eine Dose Bier. Sie ist pisswarm. Es ist egal. Ich öffne sie, trotz wissender Vorsicht spitzt der Schaum mächtig hervor und benetzt die vom Wind verknotete Gardine am Fenster. Was soll’s? Ich greife mir den Stoff, trockne damit zunächst die Dose, dann meine nassen Hände. Der erste Schluck schmeckt überraschend angenehm, warmes Bier ist weniger eklig, als ich dachte. Ich drapiere das Getränk vorsichtig neben die zwölf Budweiser-Flaschen auf dem Tisch – siehe da, passt ja wirklich noch hin! – und drehe mir eine Zigarette. Dann stelle ich mich wieder ans offene Fenster und blicke hinaus in die Nacht. Eine Grille singt in irgendeinem Baum. Sonst ist es ruhig. Kein Wind. Ich achte darauf, dass der Rauch, den ich ausblase, nicht in den Zug zieht. Ein wenig Respekt gegenüber meinen Mitreisenden muss schon sein. Der Qualm steigt fast senkrecht in den Nachthimmel und ich stelle mir vor, er käme von einer majestätischen Dampflok, die kraftvoll schnauft.

»Is’ eigentlich verboten, weisste, ne? Das mit dem Rauchen. Okay, ist zwar Sonntag, aber …«

Ich halte meinen Arm mit der Zigarette weit aus dem Fenster, da wir stehen wird sicher kein Mast diesen unsanft von meinem Rumpf abtrennen, drehe mich um und blicke dem hinweisgebenden Mitfahrer ins Gesicht. Auch dort kein Funken Groll. Nur ein entspanntes Lächeln. Der Mann ist in meinem Alter, im Gegensatz zu mir sind seine Haare jedoch gänzlich ergraut. Er hält ein Buch aufgeschlagen in den Händen, an der linken Hand trägt er einen Ehering. Ich erkenne zwar nicht, was er liest, offenbar sind es aber Gedichte. Verse sind in ihrer Form sehr verräterisch.

»Ja, ich weiß«, antworte ich, als ich mir endgültig sicher bin, dass er mir wirklich nichts Böses will, sondern eher irgendeiner Art von Pflichtgefühl folgt, das im Grunde nur als verstecktes Einverständnis gedeutet werden kann.

»Mir ist eingefallen, dass der Warschau-Paris-Express schon lange nicht mehr fährt«, setze ich hinzu, ohne mich darum zu scheren, ob mein Gegenüber mit dieser Aussage irgendetwas anfangen kann.
Mein Mitfahrer legt das Buch auf die Knie und schweigt einen Moment.

»Das ist schade«, sagt er leise und widmet sich dann wieder seinem Gedicht.
Ich ziehe tief an der Zigarette, französischer Tabak, ich rauche ihn seitdem ich siebzehn bin und blicke gedankenlos in die Ferne.

Dann setzt sich mit einem zaghaften Ruck unser Zug erneut in Bewegung, ich spüre den Fahrtwind in meinen Haaren und lausche, wieder mit geschlossenen Augen, dem aufmunternden Klatschen der Mitreisenden, ein Geräusch, das sich allmählich mit dem Regen vereint, der gerade einsetzt.