31.05.2017

Gnade
 
 
Vollstrecke das Ich
Alles meint Nichts
Gedankenimplosion

Erinnerungssplitter
Engel mit Dreitagebart
Oder Blümchenkleid
Aber kein Geflügel

Das bist du
Bist es immer
Schon gewesen

Sonnengeblinzel
Tränenzerstäuber
Funkentanz und
Sprachlosglück

So einfach ist das
Sicher
Vielleicht

Nicht
 
 
Max Cooper – Four Tone Reflections

29.05.2017

Pathologische Poetologie
 
 
Racheübung bloß
Schmerzstummes
Opfergeflüster
Ein Heimzahlen
Mit Reimzahlen
Exorzismus
Menschlich

Unausgesprochen
Der stille Wunsch
Ausgelacht
Umarmt zu werden
Am innersten Ort
Heilsam wahr
Kein falsches Wort

26.05.2017

Abrechnung
 
 
Existenzielle Einsamkeit ist im Grunde nichts weiter als das Produkt aus:
Da-Sein minus So-Sein mal Ego.
Bekanntlich ist das Ich eine Illusion. Faktor Null.
Demnach und rein logisch inexistent – die Einsamkeit.
Abgerechnet wird jedoch weiterhin erst am Schluss.
 

Wenn ich bin, weil ich ich bin, dann bist Du weil Du Du bist; wenn ich aber bin, weil Du bist, dann bin ich nicht ich und Du nicht Du.

— Ein unbekannter Rabbi

23.05.2017

Gegen alle Regeln
 
 
Paare unpassend
in zuckrigem Schmelz
üben den Sommer
stolpern über grüne
Narben ins Lieben

Bademantel aus Samt
samt Frottage am Ofen
Der Abend wirft sich
in Schale der Himmel
zackig gekämmt und
Lachshäppchen am Ohr
bereit zur Erstkommunion

Nur die Kirschen werfen wild
Fallobst trügerischer Stille

Schwalben erschwindeln
sich hoch dank Unterdruck
Ente klatscht fickrig den
Frosch ins Schilfgeschick
Der Warzenprinz opfert sich
Reihers sattem Schnabel
In Wellen lustlos aussortiert
am Forellenschwanz am Ende
wie entglitten so verlassen

Und Schweinebauchschwaden
umhüllen verzückte Mücken
Besoffen die Sowjet-Krähen
Endgültig sind’s Deserteure
Kein Wodka keine Matrjoschka
lockt sie heim ins Reich
der unabhängigen Staaten

Nur joggendes Neon noch am
Horizont als Notwendigkeit
ersehnter Alleinsamkeit

So grundlos liegt der Teich doch
ein Ungeheuer steckt im Schlick
es träumt den Schlaf des Gelinkten

Warte nur
mein Kind
bis die
Nacht sich
erbricht und
ein Fandango
der Fratzen
die Idylle
zerdrückt

Wenn
Frösche flüchten
Fische gefrieren
Dommeln reihern
ins Gebüsch
vor Angst dass
es sie frisst
ausgehungert
wie es ist

Was niemand weiß
Es will nur spielen
zu Regeln die sich
finden womöglich
erst bei Tageslicht

18.05.2017

Kollaps
 
 
Leid der Worte
Virengesichte
Taugenichtse
Hilflos
Bei
Leid

Laute
Perlen im
Absichtsnichts
Antwortlos
Fragen
Karambolierend
Verspielendes
Elend

Ach –
Stumpf
Stumm
Dumm
Wie ein Kind
Worte erfinden
Neue vielleicht
Oder auch keine
Für sich alleine
Resonante Gefährten
Im Schweigen
Gebären
Hoffentlich

14.05.2017

Lektion in Demut (5)
 
 
Der Moment, als die Sonne am Rasthof ertrinkt, jedoch nicht so ganz, halb hängt sie noch da, zwischen Spätnachmittag und Abend und kann sich nicht entscheiden und der Wind Dir ohne Vorwarnung eine Kompanie lustiger Fallschirmspringer zuspielt – Freunde von jenen, die Du erst Stunden zuvor mit einem kleinen Mädchen in den Garten entlassen hast, fest pustend und lachend, von einem grünen Stengel, aus dem weißer Saft rann – und diese Dir nun hier und jetzt auf einem Fischgrätbetonpflaster in einem Tanz um die Füße spielt, den kein Choreograph jemals sich hätte ausdenken können, so flüchtig, so leicht und erschütternd einmalig, dass Du kurz überlegst, diesen Augenblick mit der Videokamera Deines Telefons festzuhalten – für Dich, für all jene, an die Du gerade denkst, für die Nachwelt, für wen oder was auch immer – und Du dann, ebenfalls kurz, aber einen gewissen Moment länger, innerlich lachst, da Du begreifst, es ist unmöglich, ihn zu fixieren, kein einziger erlaubt dies und niemals in der Intensität, in der Du ihn jetzt gerade fühlst, deshalb beschreibst Du ihn auch nicht, du wagst nicht einmal den kleinsten Versuch, es zu tun, weder in Bildern, noch in Versen, Du siehst und erkennst und lässt – ein Moment, wie er ist, in seiner Reinheit, erhalten.

12.05.2017

Abwendung
 
 
So vieles ist so eindeutig mit dem Schein einer Versicherung versehen. Sei es die Erwerbstätigkeit, die Pflicht zur Haftung, die eigene und goldene Stimme. Und gar die Liebe: Sie wird evaluiert und selbst optimiert, offensichtlich abgesichert. Und dennoch bleibt oft nichts weiter als Täuschung.
Vertrauen enttäuscht.

10.05.2017

Missverständnis
Für Hannah
 

Ich habe immer Schwierigkeiten mit dem Begriff der »Liebe« gehabt. Sie existiert in so vielen verschiedenen Formen wie es Vorstellungen vom Wesen Gottes gibt. Ich glaube an keinen Gott, der vorstellbar wäre. Man sollte das Wort Liebe vielleicht für jenen seltenen Fall der Seelenverschmelzung reservieren, die erst nach einigen Jahren, oft verbunden mit nachlassendem Trieb, einsetzt und in eine psychische Symbiose mündet, bei der die Liebenden einander immer ähnlicher werden, ohne sich selbst aufzugeben. Doch für das weite Terrain zwischen der sogenannten »hohen« Liebe und den chemischen Prozessen schneller Verliebtheit gibt es zu wenig Vokabular. Benutze ich in Bezug auf Johanna das Wort Liebe, benutze ich es bewußt für etwas, das über bloße Begierde und Faszination hinausging. Etwas, das viel mehr war als die Zirkusnummer verwirrter Hormone. Etwas, das stark dem Gefühl glich, nach langer Irrfahrt festes, vertrautes Land zu betreten. Ich bildete mir ein, daß wir zusammen eine Zukunft haben und glücklich werden konnten. Weshalb ausgerechnet mit Johanna? Die Frage klingt im Nachhinein sehr spöttisch. Wahrscheinlich ist der Spott berechtigt. Alles, was ich sagen kann, ist: Sie hat mich zu einem anderen Menschen gemacht.
Dies allein, selbst wenn es nur von kurzer Dauer war, erhob sie in meinen Augen zur magischen Person, von der ich mir eine Katharsis für mein längst aus allen Bahnen geratenes Leben versprach. Mit einigem Abstand lässt sich sagen: Wir haben uns missverstanden. In jenem Missverständnis aber spiegelt sich die ganze Welt.

– Helmut Krausser: Schmerznovelle (2001)