Hairdresser (in the making)
Hairdresser (in the making)
Bulimie, Bartleby und der rosa Elefant
Der sogenannte Werkstattbesuch, getarnt als Reportage, ist im Grunde eine nicht als solche gekennzeichnete Werbung. Die schicke Textstrecke beginnt mit den Worten »Ein Bett kann man sich im Möbelhaus kaufen. Ein nachhaltig erzeugtes allerdings nicht so leicht. Hier setzt die Idee von „Kiezbett“ an: Gefertigt mit märkischer Kiefer aus dem Berliner Umland, mit echten Pferdestärken aus dem Wald geholt und umweltfreundlich geliefert, zeigt das Start-up den Großen, dass es auch anders geht. Und das mit wachsendem Erfolg.« Ich möchte umgehend kotzen bei diesem selbstgerechten Hipster-Hurra. Leider ist sich übergeben das Alleinstellungsmerkmal jener bulimischen Menschen, die zunehmend unsere Städte verstopfen, anschließend überall und vor allem ungefragt impact rein stopfen (bis zum get no, würde Helene H. schreiben, mit der richtigen Xberger coolness) und dann angewidert, möglicherweise insgeheim von sich selbst, regenbogenfarben alles wieder ausspeien. So etwas funzt leider nicht bei mir, sorry. Ich bin gewissermaßen Anoretiker. Dies by design und seit Dekaden. Ich präferiere die elegante Evaporation. Ähnlich wie jener Wallstreet-Schreiber-Kollege would have preferred not to, einst, und sich somit, ganz sanftmütig, dem schon damals vorhandenen Simulations-Spektakel durch leisen Suizid entzog. Seinen Tod, wohlgemerkt, verstehe ich dabei als Wahl eines namenlosen Nichts. Wie wäre es also und zur Abwechslung mal mit etwas Katalepsie im Konsumkapitalismus, statt einer weiteren und vermeintlichen Kurskorrektur? Insbesondere, wenn sie mit märkisch, nachhaltig wachsendem Erfolg – also hinterhältig – daher kommt? Warum fällt es schwer, mutig nein zu sagen, ohne umgehend ein konstruktives ja anzubieten? Wo liegt das Problem, Ambivalenzen und Unsicherheiten zunächst zu durchdulden und ein Schweben zu erleben? These: Diese angstgetriggerte Selbstsucht, dieser scheißprotestantische Wunsch, stets das Richtige zu tun (okay, wenigstens einmal) im als falsch erkannten Leben, ist nichts weiter als ein Kredit aufs individuelle Karma-Konto. Sozusagen ein fauler Ablasshandel 2.0. Für ein Dasein, das ungewollt – weil banal genetisch und geographisch, also ebenfalls by design – unverhandelbar und von Anfang mit Schuld belastet ist. Weiß und westlich – für diese Sünde gibt’s kein Charitea-Pay-Off. Schlucken wir das einfach mal. Fürs Erste.
Sauve qui peut (la vie)
Der alte Onkel Jean-Luc hat recht. Meistens. Rette sich, wer kann (das Leben). Nur: welches denn, bitte schön? Ich sympathisiere zunehmend mit der kriminellen Existenz. Neben der bürgerlichen oder alternativen Stangenware ist dies ein ebenso valides Lebenskonzept. Intelligenz ist in diesem Fall enorm von Vorteil. Es ist ein Katz-und-Maus-Spiel und die anderen Player haben’s faustdick hinter den Ohren. Die Spielregeln folgen einem System, das auf gut getarnten, weil obszön offensichtlichen, Mafia-Strukturen basiert. Mit kuscheligem Fairtrade-Ficken kommt man hier nicht weit. Diesen Klops müssten wir als nächstes verdauen. Als Digestif – oder wenn die kreative Subversion keine Option darstellen sollte – könnten wir auch mal wieder Märchen lesen. Zum Beispiel eins von H. C. Andersen. Jenes, das mit „Aber er hat ja gar nichts an!“ rief zuletzt das ganze Volk endet. Danach laut lachen. Ausgelassen tanzen. Nicht mehr so tun, als ob. »Nö, du!«, rauströten. Und ganz entspannt zu wahren Waren-Idioten werden. Wir müssen uns dazu nur an die ursprüngliche Bedeutung des Wortes erinnern.
[Beitrag für: Standort West 04/2019]
Default Genders – Sophie (emphasis mine) [ft. Beth Sawlts]
Astabile Multivibratoren
Sie wurde stumm, dann rot und fragte nicht mehr weiter, sie stand hinter ihm, gebeugt über seine Schulter, ihre massigen Brüste berührten seinen Rücken, sie blickte dabei auf bunte Dinge und ebensolche Kabel, drapiert auf einem Metallsteckbrett, auf seinem Schreibtisch, einem Geschenk der Großeltern zur Firmung, Pressspan in Kieferoptik, grottenhässlich, aber im Trend der Zeit. Die neunsilbige Antwort, die er ihr gab, um zu erklären, was er da gerade »Schönes« macht, verstand sie nicht, ließ sie erschämen, da sie die Worte, die er benutzte, nicht kannte, sogar fehlinterpretierte, sie in eine völlig abwegige Richtung denken ließ, hinab zwischen ihre Schenkel, jene No-go-area, dieses Verlies, darüber sprach man nicht, zumindest nicht dieser Schlag von Menschen – mehrfach Geflüchtete, Vertriebene, Getriebene der Angst – der sich als Familie gerierte. Ihm wuchs gerade der erste Flaum ums Gemächt, das Schweigen der Mutter machte ihn scheinbar erwachsen. Diese Emanzipation war einfacher, als er dachte, hätte er sich je Gedanken darüber gemacht, wie dies zu bewerkstelligen wäre. Jetzt aber dachte er darüber nach, wie er die Frequenz, die aus dem kleinen Lautsprecher zu hören war – ein irritierendes Geräusch, ein Knattern – variabel verändern könnte. Das RC-Glied stand im Zentrum. So viel wusste er. Entschlossen zog er den Widerstand mit Schwarz-Rot-Gelb und 2%-Toleranz heraus und ersetzte ihn durch ein Potentiometer mit den Werten 10kΩ – 260kΩ. Die Rechteckwelle konnte nun mit leichtem Dreh von etwa 300 bis 1200 Hz verändert werden und er fühlte sich gottgleich. Das humanistische Gymnasium, das ihn damals zurichtete, hatte üppige finanzielle Mittel aus katholischen Kirchensteuern und einen Teil davon in die musikalische Ausrüstung der Schule investiert. Im Bandprobenraum, der sich unter den Tischtennishallen befand, gab es ein neues Gerät aus Japan, Korg MS-20 war sein Name, es war schwarz, mysteriös, hatte unzählige Regler und Klinkenbuchsen, die mit kurzen Kabeln bestückt wurden, um über eine 3-oktavige Tastatur Klänge in die Lautsprecher zu schicken, die von DAF oder NEU! hätten stammen können. »Tanz den Mussolini« hatte er kürzlich erst zur Untermalung der Rollerdisko auf dem Sommerfest der Schule gespielt, infernalisch laut, von Vinyl, und wurde vom Physiklehrer darum gebeten, die Lautstärke zu reduzieren. Sofort wusste er, dies war sein Weg, dies würde seine Zukunft sein: die Massen mittels rhythmisierter Klänge, wie der Flötenmann aus Hameln, an den Eiern durch die emotionale Arena zu ziehen bis zum Abgrund und darüber hinaus. Demiurgische Phantasien eines narzisstisch gekränkten Menschen. Er war jung und brauchte die Aufmerksamkeit, remember: compassion is a virtue. Der Elektronik-Baukasten, den ihm die Eltern zu Weihnachten geschenkt hatten, sollte der erste Schritt auf diesem Weg dahin sein. Einen eigenen MS-20 würde er sich nie leisten können, das war ihm klar, so viel BRAVO und PRALINE würde er nie austragen können, um an das Geld dafür zu kommen. Er würde sich so etwas eben selber bauen. Er war pfiffig und glaubte an sich. Wo ein Wille ist, erscheint der Weg. Automatisch. Jahre später nahm er eine Kastanie in seine Obhut, steckte sie in einen Topf und diesen auf seinen Balkon. »Du kannst einen solchen Baum nicht domestizieren«, sagten sie. Er war sich da nicht sicher. Die Kastanie lebt und gleicht nun einem Makro-Bonsai. Der Elektronik-Baukasten lauert weiterhin still im Keller.
[Beitrag für: Standort West 03/2019]
MUTEMATH – Voice In The Silence