23.03.2014

Ich streife gerne durch die Felder und Wälder hier bei uns, knapp vier Stunden waren es heute, begleitet wurde ich seit langer Zeit mal wieder von Paul LeChien. Menschen begegneten uns in dieser Zeit exakt drei, wobei zwei davon hoch zu Ross Richtung Hohes Wäldchen stolzierten und uns in die Rolle des Publikums bugsierten, in die wie ihrer Meinung nach anscheinend gehörten.
Ansonsten gab es keine sozialen Begegnungen, ich konnte mit mir, meinen wenigen Gedanken und den zahllosen Grün- und Buntspechten einen entspannten Nachmittag verbringen. Herr LeChien ist von seiner Art ja auch extrem schweigsam und störte meine Kontemplation demnach nicht im Geringsten.
Wenn ich dann so die ruhigen Forstwege und Steige entlang wandere, allein aber nicht einsam, dann stelle ich mir oft vor, dass ich in ein Zeitloch gefallen bin und mich unvermittelt in der Vergangenheit, vielleicht im Jahre 1870, in dieser Landschaft wieder finde:
Die Sonne ist noch nicht ganz aufgegangen. Ich bin auf dem Weg von Ruppichteroth nach Weyerbusch. Ich habe eine schwere Kiepe auf dem Rücken, mit Kartoffeln und Rüben aus meinem Garten, ich muss das Zeug verkaufen, auf dem Markt in Weyerbusch, ich brauche Geld, die Jüngste ist krank und die Medizin teuer. Einfache und knüppelharte Lederstiefel, die schon so alt sind, dass ich gar nicht mehr weiß, wie lange ich sie schon besitze, trage ich an den Füßen. Ich möchte nur ankommen, ich möchte mein Geschäft erledigen, und wieder nach Hause. Die einfache Strecke hat ungefähr 25 Kilometer. Wenn ich mich ran halte, schaffe ich sie in 4 Stunden. Zwei bis drei Stunden auf dem Markt, eine Fettsuppe und ein Glas Bier im Gasthof, aber nur, wenn das Geschäft gut gelaufen ist, dann wieder zurück, zuerst über die Leuscheid, jener Höhenzug, der die Obere Sieg vom Westerwald trennt, dann über die Nutsch. Es ist April, das Wetter wechselhaft, von Sonne bis Eisregen ist alles möglich – und hier stets so gut wie sicher. Wenn nichts dazwischen kommt, bin ich vor Anbruch der Dunkelheit wieder zuhause. Hoffentlich hat die Frau etwas Brennholz im Wald sammeln können, sonst werden Abend und Nacht wieder bitterkalt in unserer kleinen Kate, deren feuchte Kälte mir irgendwann den Todesstoß versetzen wird. An Rheuma und Gicht habe ich mich ja schon lange gewöhnt. Die Kleine jappst seit Tagen nach Luft, sie ist blass und schwach. Ich hoffe, sie ereilt nicht das Schicksal ihres drei Jahre alten Bruders, der letzes Frühjahr in meinen Armen starb, weil Schwindsucht seine letzen Kräfte raubte. Als ich zuletzt diesen Weg nach Weyerbusch auf mich nahm, in jenem eisigen Februar, dessen Frost mir den kleinen Zeh nahm, sah ich im letzten Moment – und bevor sie mich entdeckten – eine lauernde Ganovenbande, die darauf aus war, Handelsleute zu überfallen. So leise ich konnte stahl ich mich durchs Unterholz an ihnen vorbei und entkam dabei im letzten Moment einem Keiler, dem ich unbemerkt zu nahe getreten war. Josef, mein Schwager, wurde im letzten Mai von einer Wildsau angegriffen, die ihre Jungen schützen wollte. Ihre Reißzähne haben sich fast einen halben Meter von oberhalb des Knies bis hoch zur Hüfte durch sein Fleisch gebohrt und die Venen durchtrennt. Es dauerte keine vier Minuten und er war verblutet. So ein Leben ist nichts Großes. So schnell und unvermittelt, wie es geschenkt, ist es auch schon wieder genommen. Überleben als Ziel …

So in der Art sind meine Gedanken, dort oben in den Wäldern, die mir für ein paar Stunden ganz allein gehören. Bis ich dann ‘zufälligerweise’ mein Smartphone in der inneren Jackentasche spüre. Und begreife, wie nichtig und unwichtig so vieles ist. Im Grunde.

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