Haiku (IX)
Stimme auf Mailbox;
Worte, leise, gebrochen –
Tränen der Liebe.
Haiku (IX)
Stimme auf Mailbox;
Worte, leise, gebrochen –
Tränen der Liebe.
Lektion in Demut (4)
Ende Vierzig schätze ich sie. Das schließe ich aus den vollkommen grauen Haaren und den Falten an ihrem Hals, ein Anblick, der an Truthähne erinnert. Vor ihrer Brust, in diesem inzwischen omnipräsenten Baumwoll-, Jute- oder Leinensack, trägt sie wohl ein Baby, frisch geschlüpft und sehr, sehr klein, da nichts zu sehen ist von dem winzigen Wesen, für mich, in diesem Moment.
Spätes Mutterglück am Stück, denke ich, dort unterhalb meines offenen Fensters, an dem ich sitze, lese und rauche – was heutzutage unkorrekt bis unmöglich ist, beides – schnippe Asche in den Leipziger Himmel und imaginiere dabei Urnen, die über einem Ozean entleert werden.
Etwas fällt herab. Eine blaue Baby-Mütze. Verloren liegt sie auf dem Gehweg. Unbemerkt von der Mutter, nur bemerkt von mir. Ich will ihr zurufen, dass ihr etwas abhanden gekommen ist, in ihrer Glückseligkeit. Doch ich schweige, während Frau und Brustbeutelinhalt in die Straße einbiegen, deren Name an Frieden gemahnt, ich weiß nicht, warum ich das mache, bis sie schließlich aus meinem Blickfeld verschwinden und mir ein schlechtes Gewissen als Andenken hinterlassen.
Ich hätte eingreifen müssen, denke ich, handeln müssen, schließlich bin ich aufgrund meiner gottgleichen Adlerperspektive im Besitz eines Wissens, das anderen – im konkreten Fall hier: der Mutter – nicht zugänglich ist. Die Mütze. Das Baby. Der kalte Kopf. Leid, Schmerz. Und ich: dafür verantwortlich.
Nein, ich greife nicht ein. Etwas in mir fordert dies. Mit der Macht des Lächelns.
Passanten flanieren die Straße entlang. Jene mit Smartphone als Erweiterung ihres Ichs bemerken die Mütze nicht, die nun blau leuchtet, da sich die Sonne für kurze Augenblicke blicken lässt, ein Umstand, der mich traurig macht und nur gelindert wird durch die Tatsache, dass sie auf ihrem Weg das unschuldige Kleidungsstück nicht noch mit Füßen treten.
Es ist ein älteres Paar, das einen Unterschied macht. Er erklärt ihr gerade wortreich in sächsischem Englisch, was es mit Multiple-Choice-Fragebögen so auf sich hat, sie nickt voller Bewunderung über sein immenses Alltagswissens – dann fällt ihr Blick auf die Mütze. Kurzes Innehalten. Fragezeichen. Strategische Überlegungen. Emotionales Handeln. Also spießt sie die Mütze vorsichtig auf einen Ast der Buchshecke am Gehweg, gut sichtbar, in Augenhöhe, mehr kann man nicht tun, kann sie nicht tun, gerade jetzt. Alles andere wird sich ergeben und zeigen.
Nach einer Zeit, die ich nicht einschätzen kann, zeigt sich die späte Mutter. Sie kommt aus der Richtung, in der sie verschwunden war, statt ihres grauen Hinterkopfes sehe ich ihr Gesicht aus dem die Freude entwichen und sich zuckende Unruhe breit gemacht hat, Augen, die suchen und nichts finden, bis sie den Buchs streifen, dann die blaue Mütze, eine Erscheinung, die ihr Herz beruhigt. Ebenso beherzt greift sie zu.
Ich bekomme den flaumigen Kopf des Kindes kurz zu sehen, ein schöner Anblick, immer wieder, denke ich, bevor er blauwarm umhüllt wird, voller Vertrauen. Und alles ist gut.
Gesang Gottes
14 waren wir
15 vielleicht
Männerreste
Monsterfratzen
Menschenopfer
in Gräben und
grobem Korn
schwarzweiß
in einem Buch
fraßen Herzen
Unschuld
unsere Kindheit
Ähnliche Bilder
gekleidet in Worte
ein anderes Buch
und Jahre später
Krieg ist unvermeidlich
In welche Schlacht
du ziehst jedoch
und das allein
steht dir frei
Kein Arjuna hat gewählt
Krishna traf die Wahl
Attacke aus dem Nichts
Schädelspalterritual
Krieg dem Kriege
intonierte das
erste Buch
einst
Du kriegst
mich nicht
das singen wir
nun
Sóley – Endless Summer
Haiku (VIII)
An Walpurgisnacht
den Berg umfliegen Hexen –
im Fluch des Schicksals.
Gespräche mir Herrn Prunus (3)
Ein Maibaum-Monolog
Ich habe gehört, dein verstümmelter Arm wurde vollständig amputiert. Ich erinnere mich noch gut, wie es war, damals, schmerzhaft, nicht nur für dich, diesen krummen, aber stolzen Ast bis auf einen Rest, der dazu dienen sollte, dass Charlie darauf sitzen und zum Liebestunnel blicken kann, würde ihr mal danach sein, mit der Motorsäge zu entfernen. Drei Spanngurte und 120 PS eines Traktors nahmen dir krachend jenen Arm, der verschmitzt nach Osten zeigte. Ja, und da bin ich nun – im diesem Osten und dies schon seit nahezu 1001 Nacht. Nicht alle davon waren märchenhaft, das kannst du mir glauben.
Ich vermisse die Art, wie du mit mir sprachst – provokativ, amüsiert, frotzelnd, immer jedoch auf deine untergründige Art und ungemein zärtlich. Die Blätter, die du hinter meine Brille hast segeln lassen, die vermisse ich auch. Ich hätte sie aufbewahren sollen. Jedes einzelne davon.
Behandeln sie dich gut? Sehen und erkennen sie dich überhaupt? Ich befürchte, dass sie dich ganz beseitigen werden. Einfach so. Weil sie können. Du musst verstehen, sie meinen es nicht böse. Sie sprechen nur leider nicht deine Sprache. Aber das kommt noch. Irgendwann sind sie sicher dazu in der Lage. Obwohl: Bei ihm bin ich mir etwas unsicher. Schließlich hat er es bis heute nicht geschafft, seine eigene Stimme richtig wahrzunehmen. Und auf sie zu hören. Vielleicht bist du ja clever und findest einen Weg zu ihm? Das fände ich schön und es würde mich beruhigen.
Was hältst du von Charlie? Sie ist groß geworden, oder? Und schön. Eine süße und schlaue kleine Dame. Erwachsen fast, aber noch Kind genug, mit offenen Augen und einer Neugier, die aus dem Herzen strömt. Sie findet dich bestimmt. Oder hat dich bereits gefunden, auf ihre Weise, die nicht meine sein muss.
Die Abende mit dir sind mir so nah als wäre es gestern. Vieles von dem, was du mir damals versucht hast, zu erklären, begreife ich erst jetzt. Und sicher nicht vollumfänglich. Möglicherweise war’s dein geheimer Plan, weil es so ist und so und nicht anders sein muss. Zwiebelhäute der Erkenntnis.
Hier am Fenster steht übrigens Mick – du weißt schon, diese Kastanie, die ich, als Pflanzenmarkt war, von einem Schutthügel gerettet und anschließend mühsam aufgepäppelt habe. Auf der anderen Seite der Kreuzung und im Freien lebt ein uraltes Mitglied seiner Familie. Mick schaut immer neidisch rüber, will auch mal so groß werden. Ich gebe ihm alle Zeit der Welt dafür. Beziehungsweise, so viel Zeit halt, wie mir auf diesem großartigen Planeten gegeben ist. Danke, dass du mich an diese banale Tatsache immer wieder erinnert hast. Deshalb passe ich auch gut auf mich auf. Besonders, wenn ich über diese unsäglichen Pflastersteine hier in der Stadt balancieren muss, um mir nicht den Hals zu brechen. Mein Weg führt mich dann oft – und sei jetzt bitte nicht traurig oder eifersüchtig – zu einer Frau Prunus. Sie wohnt im Park, um die Ecke, wo sich Affen streiten und Giraffen ihre Hälse recken, und dies macht sie sicher schon seit hundert Jahren. Wie du siehst: kein Grund zur Sorge, sie nimmt mich dir nicht weg. Verdammt groß ist sie, ungefähr drei Mal dein Kaliber, eine Wuchtbrumme. Und sie hat kürzlich erst mit Blüten um sich geschmissen, dass es eine Freude war, besonders für die zahlreichen Kinder, die auf ihr rumkletterten. Diese Dame besitzt obendrein einen Stuhl am Fuße ihres mächtigen Stammes. Da sitze ich oft und warte, dass sie mit mir spricht. Sie ziert sich. Noch. Wahrscheinlich ist sie etwas schüchtern und kann mich nicht recht einschätzen. Egal. Ich spreche einfach mit ihr. Und erzähle oft von uns beiden. Dann lache ich leise in mich hinein, weil es stets so schön ist, was ich ihr berichten kann.
In einem Artikel habe ich kürzlich gelesen, ihr Bäume könnt über irgendeinen Kanal, der uns Menschen fremd ist, oder den wir verloren haben, miteinander reden. So Herr-der-Ringe-mäßig. Wenn dem so ist: Sprich sie doch mal an. Dass sie mir vertrauen kann. Ich bin, obwohl es manchmal nicht so aussieht, ein echt Netter und ganz sanft, zu zart vielleicht. Du kennst mich. Ja, ich habe verstanden, was du mir damals versucht hast, zu erklären. Schneisen der Liebe. Umarmen und so. Bin dabei, keine Sorge. Kleine Schritte. So, wie du es mir geraten hast. Mein Ohr war damals noch ein wenig zu sehr mit Unrat verstopft. Das tut mir leid. Auf der anderen Seite aber auch wieder nicht. Weil. Es. Ist. Halt. So. Jetzt lächelst du. Das ist schön!
Leider muss ich nun schließen. Auf mich wartet die Angst, die spielen gehen möchte. Ich melde mich wieder. Entweder so, hier. Oder ich komm rum. Kein Scheiß. Der Wind steht günstig. Und dann nehme ich dich ganz fest in den Arm, pflege deine Wunde (wenn sie dir schmerzt). Eine gute Flasche Picpoul-de-Pinet bringe ich ebenfalls mit. Auf die alten Tage. Ich vermisse dich, mein Freund. Komm gut in den Mai. Pass auf dich auf. Du wirst noch gebraucht.
Marketingweisheiten
Wir empfehlen den Gebrauch unserer Produkte als Teil eines ausgeglichenen Lebenswandels, beruhend auf gesunder Ernährung, einem vernünftigen Maß an Körperbewegung, mäßigem Rotweinkonsum und einer regelmäßigen Dosis stimulierender Literatur.
Haiku (VII)
Generalprobe,
für einen letzten Abschied.
Musik weint im Licht.
Der Job (aktualisiert)
Für Wolf W.
Wenn jemand dir weh tut
schau ihm in die Augen
oder ihr
suche darin und finde
das geheime Wort
buchstabiere es
sprachlos
Zeichen für Zeichen
bis waidwund das Wesen
seinen Namen dir flüstert
im Vertrauen
Dann umarme es
sanft wie eine Mutter
stark wie ein Vater
mit der Leidenschaft
einer Meerjungfrau
opfere deine Zunge
Haiku (VI)
Niemands Sprache da
Worte viel-mehr erscheinen
als lautes Schweigen.
Kein Entkommen
Für Chrishna
Brüderchen komm
tanz mit mir
wir spielen die
Angst aus gegen
alle Konvention
sind sattgesehen
an Illusion
wir wählen
Grundvertrauen
bedingungslos
scheißen auf
Sicherheitssysteme
und ihre Signale
halten uns fest
am Walzer im Fluss
am Kamm der Welle
sind Wind im Buchs
Hafen Barke Ozean
Freiheit tobt dort
wo Liebe wächst
furchtlos ziellos
grandios endlich
verdammt
im Moment
und glücklich
Niemand kommt
hier lebend raus
mit einem Lächeln
ohne mutig vorher
gelebt zu haben
M83 – Intro (feat. Zola Jesus)