Gespräche mit Herrn Prunus (2)

Zurück aus dem Moloch, in dem alles steht, besonders die Luft – an einem Tag, der als der heißeste des Jahres 2010 in die Wetteraufzeichnungen eingehen wird. Aber, gottseidank: Landluft macht frei. Zumindest den Kopf. Zumindest meinen. Es gibt eine Stelle, die ich dann gerne aufsuche – hier draußen, im Sommer: Unsere wilde Obstwiese, mit den alten Apfelbäumen, der trotzigen Pflaume und natürlich mit der majestätischen Kirsche, die über all dieser Pracht wacht.

Bei Dämmerung weht auf dieser Wiese eine angenehme Kühle von den umliegenden Feldern heran – dieses Jahr sind sie bestückt mit gelbleuchtendem Weizen und garantiert genunmanipulierter Gerste. So sitze ich dort, im Hängestuhl meiner Erstgeborenen. Er baumelt an jenem Arm des alten Kirschbaums, der exakt auf Minute und Sekunde eingenordet ist. Das Hachenburger Pils in meiner Rechten ist eiskalt, die Zigarette in meiner Linken frisch entflammt, der Himmel erstrahlt in nahezu kitschigem Mauve und hin und wieder segelt lautlos eine Fledermaus durch die umliegenden Wipfel. Mein Kopf jedoch: Er ist noch nicht ins Hier und Jetzt gelangt. Diffuse Gedanken, dumpfe Gefühle und eine schwer in Worte zu fassende Unzufriedenheit spielen darin Karambolage. Glühwürmchen schwirren herbei, drehen ihre grünen Arschlampen posermäßig auf Volllast, bemerken dann enttäuscht, dass ich weder ein zu becircendes Weibchen ihrer Art bin noch auf irgendeine andere Weise paarungsbereit und knipsen ohne große Worte ihr Lichtlein wieder aus. Schlagartig fühle ich mich traurig.
Ein Kirschblatt fällt herunter und verklemmt sich am Ende seines Sinkflugs hinter dem linken Glas meiner Brille. Genervt zupfe ich es weg und schnippe es in die Wiese, die dieses Jahr aufgrund der andauernden Trockenheit von der sonst üblichen Schneckenplage verschont blieb. Mein grundsätzlich netter Nachbarn ist deshalb sogar noch netter als sonst – was ihn mir ohne Grund suspekt erscheinen lässt. Merkwürdig.

– Na, Chef, wie war dein Tag?

Klar, der alte Herr Prunus war das mit dem Blatt hinter meiner Brille, warum bin ich nicht gleich drauf gekommen? Ich habe lange nicht mehr mit ihm geredet. Weiss der Geier, warum. Vielleicht war es einfach nur zu lange kalt in letzter Zeit. Ja, so wird’s sein. Hoffe ich. Und schweige. Ich hab‘ keine Ahnung, was ich sonst auf seine Frage antworten soll.

– Oha. So richtig scheiße, was?

Einen kurzen Moment denke ich über seine Vermutung nach. Nein, so richtig scheiße war der Tag eigentlich nicht. Eigentlich nur so, wie zu viele in den vergangenen Wochen: mannigfach frustrierend. Ich weiss, Herr Prunus wird so lange bohren, bis er eine Antwort von mir bekommt. Also spreche ich einfach das aus, was mir als Erstes durch den Kopf geht. Mein ehemaliger Analytiker würde jetzt triumphierend und stumm „Strike!“ in sich hinein rufen.

– Ich fühle mich alt. Müde. Mein Glaube an das Schöne wird schwächer. Ich leide. Besonders an der Dummheit von so vielen Menschen. Und gleichzeitig an der Erkenntnis, dass diese armen Kreaturen es im Grunde nur nicht besser wissen, weil sie den wahren Grund für ihre Pein nicht kennen – und deshalb eigentlich aufrichtig zu bemitleiden sind.

Ich nehme einen Schluck Bier und hoffe, Herrn Prunus durch den immensen Tiefgang meiner Gedanken wenigstens für eine Weile spachlos gemacht zu haben. Irrtum. Er lacht! Blätter und verwelkte Blüten regnen auf mich herab.

– Ah, die Jesusnummer, verstehe. Du trägst mal wieder die Last der ganzen Welt auf deinen Schultern. Das ist echt hart. Und absolut unangebracht. Aber das sagte ich dir bereits. Irgendwann. War es Herbst? Egal. Du hast es vergessen. Du Kretin.

Ich blicke stumm auf den finstren Waldrand. Es ist fast Nacht. Ich könnte jetzt wortlos ins Haus gehen und laut Musik hören. Irgendetwas hält mich davon ab. Stolz. Und der unbändige Wille zur Rechtfertigung. Siegessicher ziehe ich mit mindestens drei Bar Unterdruck an der gefühlt vierten Gauloise, halte den Rauch sehr lange in der Lunge – was die Bronchien mit dem Zwerchfell sympathisieren lässt und in einem Schluckauf mündet. Peinlich. Sowas! Gerade jetzt.

– Was ich sagen wollte: All das, was ist, raubt mir zunehmend die Lebensfreude. Als Beispiel: In den letzten Jahren habe ich den längsten Tag des Jahres immer irgendwie zelebriert. Habe bis zum Morgengrauen am Flußufer gesessen. Und um die Kostbarkeit des Augenblicks gewusst. Aber dieses Jahr: Nichts, Nada, Null. Um elf ins Bett. Müde. Genervt. Frustriert. Mit dem bleiernem Gefühl von Sinnlosigkeit in den Knochen. Schön ist das nicht. — Wenn du jetzt antwortest, dann bitte etwas produktiver und nicht so von oben herab. Okay?

Eins der Glühwürmchen lässt noch einmal kurz und hoffnungsvoll sein Licht erscheinen. Quasi als letzter Versuch. Und Herr Prunus lässt auf sich warten. Nach Sekunden beredtem Schweigens:

– Sonnenwenden sind grundsätzlich überbewertet. Ein netter Anlass, stimmt. Gehen aber an der eigentlichen Sache vorbei. Was zählt ist auf dem Platz.

– Machst du jetzt auf Bela Rethy für Arme, oder was?

– Du lenkst ab. Und du weisst es. Eigentlich weisst du sowieso schon alles. Das Blöde daran ist nur: Du hast es vergessen. Wissentlich. Du willst leiden. Warum?

Kurz spiele ich mit dem Gedanken, diese scheinbar zu nichts führende Diskussion abzubrechen – doch plötzlich sind unbekannte Geräusche zu hören. Es ist kein Fuchs, der sich scheinbar im Dickicht des nahen Pappelheins erbricht. Auch ist es kein Kauz, der hämisch lacht. Das Geräusch ist alles andere als tierisch, es ist allzu menschlich. In diesem speziellen Fall sogar eindeutig weiblich. Zu hören ist das „Ah! Ja! Oh!“ einer jungen Frau. Ich glaube einen Moment lang einer akustischen Halluzination aufzusitzen – nein, es ist eindeutig: Irgendwo hier am Rande des Tals treiben es gerade zwei Menschen miteinander, ihr Liebesspiel echot leise durch die Nacht. Unglaublich! Ich verharre stumm in meinem Hängestuhl, mit angehaltenem Atem. Herr Prunus ebenfalls. Auf seine Art. Nach einem Moment dann Gewissheit: Dort oben, auf der Bank oberhalb des Bahntunnels lieben sich wirklich zwei Menschen, das verräterische Geräusch von Unterleibern, die in Extase saftig aufeinander klatschen, ist zu hören. Mir fehlen die Worte. Die beglückte Dame, ihren Höhepunkt erreichend, hilft mir schließlich aus, indem sie ein langezogenes und lautstark gehauchtes „Oh! Mein! Gott!“ in den Himmel über Hoppengarten schickt. Stille. Dann:

– Das, zum Beispiel, finde ich verdammt schön.

Herr Prunus hat als erster seine Worte wieder gefunden. Er spricht sie gradewegs aus. Ohne irgendwelchen skurrilen Subtext oder subtiler Ironie. Einfach authentisch. Und äußerst liebevoll. Er meint es so, wie er es sagt.

– Ja, ist das einzige, was ich darauf antworten kann, und ich verabschiede mich stumm von diesem alten, weisen Mann. Das Bier ist leer. Ebenso mein Kopf. Endlich. Nur einen sanften Kuß drücke ich auf die rissige Rinde seines mächtigen Fußes und gehe dann ins Haus zurück.

– Mach die Augen auf, ruft er mir noch zärtlich hinterher.

Bevor ich mich ins Bett lege, stehe ich noch einen Moment oben auf der Terasse vorm Schlafzimmer und blicke hoch zu dieser Bank oberhalb des Bahntunnels. Dort sehe ich plötzlich eine Taschenlampe, die kurz aufleuchtet. Das Licht tanzt hin und her, wie ein Glühwürmchen. Als würde es etwas suchen. Für den Bruchteil einer Sekunde strahlt es auch in meine Richtung. Dann erlischt es. Und ich kann endlich schlafen und nehme mir fest vor, Herrn Prunus morgen ein Glas dieses leckeren Picpoul de Pinet, Jahrgang 2009, zu krendenzen. Aus Dankbarkeit. Und, weil es schön ist, dass es ihn gibt.

Gespräche mit Herrn Prunus

Gestatten: Mein Name ist Prunus.Möglicherweise war dies der letzte warme Tag des Jahres. Grund genug, Herrn Prunus mal wieder zu behelligen. Ich muss ihn nicht lang suchen, er ist dort, wo er seit fünfzig Jahren schon zu finden ist: am Anfang der Obstwiese — die unser Nachbar (ein im Grunde herzensguter Mensch) als eine der Brutstätten der heurigen Schneckenplage ausgemacht haben will. Ist ja alles so verwildert. Irgendwie schon wahr. Soll aber hier nicht weiter interessieren.

In lauen Sommernächten suche ich gern die Nähe von Herrn Prunus. Er scheint stets auf mich zu warten, wenn ich abends aus dem maladen Moloch namens „Metropole“ heim kehre und den Unsinn des Tages los werden muss. Bei ihm ist immer ein Stuhl frei. Ich wähle meist den niedrigeren, denn er erlaubt mir eine bessere Bodenhaftung. Ich sitze dann dort und mache eigentlich nichts weiter, als genau das: Den Blick schweifen lassen über den Waldrand, es ist still. Hin und wieder macht ein Fuchs Geräusche, als würde er kotzen — und die Käuze, die ich wohl nie zu Gesicht bekommen werde, erzählen sich Witze, die ich nie verstehe. Nebel steigt aus den umliegenden Feldern und das Tageslicht verdämmert in atemberaubendem Tempo. Friede ist auf der Welt. Ich schwinge sanft hin und her im Hängestuhl meiner Tochter, der die Pubertät gerade das Hirn neu verdrahtet und hänge meinen Gedanken nach — sie tropfen sanft ab in den taufrischen Hort der Schneckenbrut — und alles ist gut.
Und Zeit für seinen Auftritt.
Je nach Lage segelt mir dann meist ein Blatt auf den Kopf, ganz sanft. Oder eine reife Kirsche ploppt auf die Fontanelle, ohne mir Schmerz zuzufügen.

— Na, Chef, wie war dein Tag?

Das ist sein Standard-Intro. Seit vier Jahren schon. Ich suche nach den richtigen Worten.

— Ach, eigentlich ganz okay. Der übliche Wahnsinn halt. Ich übe mich tapfer im Erzeugen von Realität. Muss ich noch ein bisschen dran feilen. Gelingt mir aber von Tag zu Tag besser.

— Is‘ klar.

— Was »Is‘ klar«?

— Scheinst ja immerhin auf mich zu hören. Versuchst es wenigstens.

Schweigen.

— Siehst müde aus, sagt er.

— Bin ich auch.

— Warum?

— Lange Geschichte.

— Ich hab‘ Zeit. Solltest du inzwischen wissen.

Es ist jetzt dunkel. Nur meine Zigarettenglut spendet noch fahles Licht. Und mich finden endlich Worte. Ob sie richtig sind, weiss ich nicht.

— Es ist alles so anstrengend … und aufreibend.

— Bullshit.

Ich schaue hoch in den Himmel, auf die Arme von Herrn Prunus, die in alle Himmelsrichtungen zeigen — ausser nach Westen, da lugt nur ein rudimentärer Ast heraus.

— Aha.

Pause. Der Fuchs im Pappelhain erbricht irgend etwas. Knochen vielleicht.

— Du hast mir letzes Mal nicht richtig zugehört.

— Blödsinn.

—  Inzwischen solltest du auch wissen: Im Grunde ist alles ganz einfach.

Die Zigarette fliegt auf das angrenzende Gründstück. Der grundsätzlich nette Nachbar wird morgen behaupten: „Jetzt fangen die Schnecken auch noch an zu rauchen. Unglaublich!“
Geschenkt.

— Wenn mir die Kälte entgegen bläst …

— … verlierst du die Blätter, ergänze ich.

— Genau. Einem nackten Mann kann man so nichts mehr nehmen.

— Und im Sommer…, setze ich fort.

— Im Sommer, da steht alles im Saft, dann werfe ich richtig mit meinen Geschenken um mich.

— Weiss ich. Und?

— Was »und«?

— Was willst du mir damit sagen, alter Mann?

Eine Wühlmaus quietscht. Ich verstehe nicht, was sie sagt. Herr Prunus offenbar aber schon.

— Richtig. Alles zu seiner Zeit.

— Ich verstehe nicht so ganz.

— Weiss ich. Und genau das ist den Problem — Was trinksten du da?

Ich schaue in mein Glas und komme mir plötzlich klein vor.

— Einen 92er Bergerac. Wieso?

— Haste noch was übrig? Sieht verdammt lecker aus.

Ich schraube mich aus dem Hängestuhl, gewillt, Herrn Prunus ein Gläschen zu kredenzen …

— Kommst du?, ruft sie aus der Küche.

— Ja, antworte ich.

Und weiss schlagartig, dass ich mit Herrn Prunus noch lange nicht fertig bin. Ich trotte durch die Wiese Richtung Haus und drehe mich noch einmal um:

— Wir sprechen uns noch!, rufe ich ins Geäst und meine Herrn Prunus.

Als ich den Komposthaufen passsiere, höre ich ein leises Seufzen.

–Is‘ klar. Du weisst ja, wo du mich findest.

Die Nacht wird sternenklar. Ob ich schlafen kann, steht ebenfalls in den Sternen. Wie gut, dass Herr Prunus nicht wegläuft.