Lesen. Aufgelesen.

Es ist ihr Rock, der mir zuerst ins Auge fällt – so ein Jeans-Rock, der fast bis zu den Knöcheln reicht, in verblichenem Indigo und aus einem Stoff, der an Zonen-Gabis Hemd erinnert – jenes auf diesem politisch alles andere als korrekten Cover-Foto der Titanic, vor zwanzig Jahren. Sie quetscht sich mir gegenüber in den Vierer des Regionalexpress nach Köln, schlägt die Beine züchtig übereinander, berührt dabei mein Knie mit ihren flachen, farblosen Schuhen und ich entdecke dunkelgraue Strümpfe, die gefühlt bis unter ihre Achseln reichen müssen. Vom Alter her ist sie undefinierbar. Sie ist wohl so alt wie ich, ihr Äußeres jedoch lässt sie an der Grenze zum Greisenalter erscheinen. Sie meidet meinen Blick, kramt in ihrer Jute-Tasche, während ich meinen MP3-Player auf das nächste Stück skippe – LCD Soundsystem, Drunk Girls, irrer Groove – und in die Sonne blinzle. Irgendwann schaue ich wieder in ihre Richtung, weil der Schaffner im Hintergrund erscheint – und habe plötzlich die Halluzination, ein teutonisches Exemplar der Mormonen-Sekte vor mir sitzen zu haben. Und tatsächlich, wie der Teufel es will: die Frau liest in einem Buch, dass Buch ist antik und schwarz, es hat einen abgewetzten Einband – und auf dem Falzrücken steht in Sütterlin-Schrift »Die Bibel«. Ich sehe ihre Augen langsam über die Worte wandern. Sie ist etwa in der Mitte der heiligen Schrift vertieft – irgendwo zwischen Hiob und Hohelied. Sie spürt nach einem Moment offenbar meinen Blick auf sich. Wirkt überrascht, dann gehetzt. Klappt die Bibel zu, stopft sie in die Tasche, steht übereilt auf und geht wortlos in ein anderes Abteil. Ich blicke ihr nach und frage mich, ob ich möglicherweise etwas falsch gemacht haben könnte.

Sein Maleranzug ist mit lustigen Farbsprenkeln übersäht. Mit einem leisen »Uff« setzt er sich mir gegenüber auf die Sitzbank in der Linie 16 Richtung Süden. Sein Gesicht ziert ein Dreitagebart, an den Füßen: die für seinen Job wohl obligatorischen Arbeitsschuhe. Sie sind verstaubt – genau wie sein Rucksack, den er sich nun auf den Schoß wuchtet. Ein neuer Tag auf irgendeiner Baustelle wartet wohl auf ihn. Nach einem Moment beginnt er in seinem Rucksack zu kramen – was kommt jetzt? Kölsch, Express? – nein, er fischt ein vergilbtes DTV-Taschenbuch heraus, zieht sehr sorgsam den Reißverschluss des Rucksacks zu und vertieft sich in die Lektüre. Das Cover des Buches kommt mir bekannt vor. Neugierig schaue ich genauer hin und entdeckte, dass es »Haben oder Sein« von Erich Fromm ist. Ich versuche in den Furchen seines Gesichts eine Erklärung dafür zu finden. Nichts. Ein ganz normaler Maler. Hinterm Barbarossaplatz streifen Sonnenstrahlen sanft seine Wangen. Und ich frage mich, ob nicht doch noch Grund zur Hoffnung besteht.

Er macht bestimmt in Marketing, dieser gegelte Typ im Casual-Business-Dress – erster Hemdknopf offen unter seinem Boss-Anzug – er steht breitbeinig im Restsonnenlicht am Nordwestausgang des Kölner Hauptbahnhofs, unweit der Junkie-Notstation, und schaufelt gelangweilt gebratene Nudeln aus dem Karton in seinen Mund – sie sind ausschließlich dekoriert mit leichtem Gemüse, sanft gedünstet, gesund. Sein Blick schweift weltmännisch über den tristen Vorplatz, wo es eigentlich nichts zu sehen gibt – die Junkies nahe des Bahnhofeingangs übersieht er dabei bewusst. Ihr Äußeres ist ja wenig appetitanregend. Ich stehe etwas abseits neben einer der großen Flügeltüren aus gebürstetem Metall, neben einem qualmenden Aschenbecher und rauche meine letzte Zigarette in dieser Domstadt, bevor ich in den Zug Richtung Provinz steige. Mit einer lässigen Geste drückt der Casual-Business-Mann seine Gabel in jenen Karton, den asiatische Schriftzeichen zieren. Ich habe keine Ahnung, was sie bedeuten. Vielleicht: „Dumme Deutsche versprechen gute Geschäfte“. Mit dynamischen Schritten kommt er mir entgegen, bleibt vor der Mülltonne neben dem Aschenbescher stehen und lässt den Karton sanft in den Abfallsack plumpsen. Ich erkenne, dass er mindestens die Hälfte der Mahlzeit nicht gegessen hat. Er wischt sich schnell mit einer Papierserviette über den Mund, greift innen ins Sakko, fischt ein iPhone raus und beginnt offensiv damit zu hantieren. Er ist stolz auf sein schickes Gadget und bedacht, dass auch jeder es sieht. Einer der Junkies, die nur ein paar Meter von uns stehen, blickt tatsächlich interessiert herüber. Dann kommt er auf uns zu. Aber nicht dem Mobiltelefon gilt sein Interesse, sondern dem Karton mit asiastischen Zeichen in der Mülltüte. Ohne groß zu zögern greift er in die Tonne, holt den Nudel-Karton aus dem Dreck, klappt den Deckel auf, fummelt die Gabel raus und beginnt, die Reste der Marketing-Menschen-Mahlzeit genüsslich zu essen.

– Ich habe ’nen Mordshunger, Alter!

Er schaut mich entwaffnend an, während er schlürfend die glitschigen Nudeln in seinen Mund zieht. Der Casual-Business-Mann macht derweil auf Autist. Oder ist vielleicht sogar einer. Die ganze Aktion hat er sehr wohl mitbekommen. Vielleicht ist auch die App, mit der er gerade rumspielt, nur so schweineinteressant. Es ist mir egal.
Ich frage den Junkie, aus dessen rotem Gesicht nun schmatzende Geräusche tönen, ob ich ihm eine Kippe drehen soll – quasi als Nachtisch. Er grinst und nickt hocherfreut.

Life is real only then when I am

So fühlt sich das an: Ein Sonntag auf dem Land, mit Blick auf die Lärchen, die im Wind sanft schaukeln.

Eluvium: The Motion Makes Me Last

How does the motion make me last?
I shuffle forward and I’m back
I can be questioning my thoughts
but not looking for what I lack
what is it that has my mind so hypnotized?
shapes are for looking at
and their colours create my mood
I’m a vessel between two places I’ve never been

To sink further and reform design
creation as a pathogen
what’s more than subtle in these (heights?)
I know you’re looking forward to them
what is it that has my mind so hypnotized?
Evolving on a thought that you’ve half realized
life is real only then when I am but I am I am surprised
shapes are for looking at
and their colours create my mood
I’m a vessel between two places I’ve never been

Eluvium: The Motion Makes Me Last (aus: Similes, erschienen auf Temporary Residence Limited)
 
 
Eluvium – The Notion Make Me Last

Sehnsucht, nach dem »Davor«

Sie steht an der Kasse der Buchhandlung und wartet, dass sie an die Reihe kommt. Genervt ist sie: Sie will endlich ihr Buch bezahlen und nach Hause. Einkaufen ist Stress für sie. Nahkampf – alle anderen sind ihre Feinde. Sie stehen ihr im Weg, rempeln sie an, versperren den Blick auf die Auslage. Stören. Stinken. Ihre Nase nimmt plötzlich einen nicht einzuordnenden Geruch wahr. Der Geruch kommt von hinten. Sie weiß nicht, ob es unangenehm oder vielleicht sogar doch angenehm riecht. Sie denkt kurz nach, kramt in ihrer olfaktorischen Erinnerungskiste. Und kommt schließlich drauf: Alter Urin.

Sie wendet ihren Blick vorsichtig nach hinten und entdeckt einen Penner, der dicht hinter ihr steht und in dem Moment, wo sich ihre Blicke verschämt treffen, damit aufhört, mit halbgeschlossenen Augen den Duft ihrer Haare in sich aufzusaugen.

Er schaut zu Boden und dreht sich um. Geht schnurstarks auf eine Regalreihe zu, in denen Bildbände von fremden, fernen und heißen Ländern angeboten werden. Sie studiert seine äußere Erscheinung: Er hat schütteres, schulterlanges Haar, einen halbwegs gepflegten Vollbart. Seine grüne Cordhose ist vom Schmutz gezeichnet, sein Steppmantel hat blasse Flecken am Saum. Würde sie nur flüchtig hinschauen, sie würde in ihren Augenwinkeln bloß einen leicht heruntergekommenen Mitvierziger vor einem Buchregal wahrnehmen. Leicht heruntergekommen, okay, aber einer von ihnen. Doch sie sieht seine Hände. Seine Finger, die sich verkrampft zu einer Faust ballen, die kleinen Finger eigentümlich abgespreizt. Seine verschmutzen, eingerissen Fingernägel, unter denen sich der Dreck der Schildergasse wie ein Mal eingebrannt hat. Sieht, daß er zittert. Sieht seinen Blick auf die prächtigen Buchcover: Provence, Kenia, Kanada. Seine glasigen Augen, die über die Bücher huschen. So, als wolle er wirklich eines dieser teuren Bücher erstehen wollen.
 Sie beginnt zu phantasieren. Imaginiert sein Leben. Vielleicht war er damals in einem dieser fernen Länder? Damals, bevor ihm das Schicksal einen Strich durch die Rechnung gemacht hatte. Bevor er seine Frau, seinen Job und seine Wohnung verlor? Hat er Sehnsucht? Nach dem damals, dem davor? 
Sie empfindet auf einmal, ihr unerklärlich, so etwas wie Mitleid. Möchte diese arme Kreatur in ihre Arme schließen und flüstern: »Alles wird gut.«
Doch die nölende Stimme der Kassiererin reisst sie aus ihren Gedanken und fordert sie an die Reihe. Sie bezahlt stumm und geht nach Hause.

Und auch der Penner wird nach fünf Minuten die Buchhandlung verlassen, diese trockene und warme Oase, an einem Tag, an dem der Wind gewissenlos durch die Strassen jagt und die Kälte unaufhaltsam durch seine vom Schmutz gezeichnete Cordhose dringt.
Genauso unbemerkt, wie er gekommen war.

Healing force – part 5

Dieses Stück ist eine Kampfansage – ein Crescendo des Aufbruchs, wohin auch immer: Zur Freiheit, zu innerem Wachstum. Oder zum Zertrümmern all der Dinge, die einen kaputt machen.
Das Falsett des Sigur Rós-Sängers Jónsi umkreist in Variationen dieses Thema, wird unterfüttert von sakralen, subfrequenten Orgeln (die nicht nur entfernt an Meister Bach erinnern) – all dies steuert auf ein zertrümmerndes, aber erlösendes Drumfinale zu, das alles in seine digitalen Einzelteile zerlegt und Platz für Neues schafft. Stichworte: Asche, Phoenix, Wiederauferstehung.
Laut hören. Es wirkt.
Heute morgen im Zug hätte ich vor lauter Kraft sämtliche Mitfahrer knuddeln können.

You’ll know, when’s time to go on
You’ll really want to grow and grow till tall
They all, in the end, will follow

You’ll… know
You’ll… know
You’ll… know…

 
Jónsi: Grow Till Tall, vom Album »Go«, das Anfang April auf Parlophone veröffentlicht wird.
 
 
Jónsi – Grow Till Tall

Der Job (re-revisited)

Politik ist mitunter poetisch; wahre Poesie letztlich immer auch politisch. Schön ist der Moment, wenn sich Kreise zufällig schließen und der stille Schrei unvermittelt ein lächelndes Echo aus der Ferne erfährt – aufmunternd und tröstend:

»Wir nehmen die Menschen weder isoliert voneinander wahr, noch getrennt von den anderen Wesen der Welt; wir sehen sie durch vielfältige Bindungen verknüpft, die zu verneinen sie gelernt haben. Diese Verneinung erlaubt es, die affektive Zirkulation zu blockieren, durch die diese vielfältigen Bindungen empfunden werden. Diese Blockade ist ihrerseits nötig, damit man sich an das neutralste, farbloseste, durchschnittlichste Regime der Intensität gewöhnt, dasjenige, das einen dazu bringt, sich Urlaub, die Wiederkehr der Mahlzeiten oder entspannte Abende als eine Wohltat zu wünschen – will sagen Dinge, die genauso neutral, durchschnittlich und farblos sind, frei gewählt. Von diesem Regime der Intensität, es ist in der Tat sehr verwestet, nährt sich die imperiale Ordnung.

Uns wird gesagt: Indem ihr die emotionellen Intensitäten verteidigt, die im gemeinsamen Experimentieren entstehen, widersprecht ihr dem, was die Lebewesen zum Leben verlangen, nämlich Annehmlichkeit und Ruhe – übrigens heute zu hohem Preis verkauft, wie jedes verknappte Lebensmittel. Wenn man damit meint, dass unser Standpunkt unvereinbar ist mit autorisierter Freizeit, dann könnten selbst die Wintersportfanatiker annehmen, dass es kein großer Verlust wäre, alle diese Skistationen abbrennen zu sehen, und den Platz den Murmeltieren zurückzugeben. Hingegen haben wir nichts gegen die Zärtlichkeit, die alle Lebewesen als Lebewesen mit sich tragen. „Es könnte sein, dass Leben etwas Zartes ist“, irgendein Grashalm weiß es besser als alle Bürger der Welt.

 
TIQQUN, in: Der Aufruf (2003)

Die Wette gilt. Und es ist egal, wer zuerst ankommt.