Where the hurt comes from

Sehr schöne Idee – sehr nachahmenswert: Man nehme ein x-beliebiges, verblödendes Wahlplakat/Werbeplakat und korrigiere es ein bisschen — mit Poesie.

So geschehen kürzlich in London: Das „Shoreditch Department of Advertising Correction“ zeichnet sich verantwortlich für diese kreative Aktion in London vom 19. April 2010.

Es waren übrigens Wahlplakate der Konservativen.

Mehr davon hier.

(via rebel:art)

Do you have any idea?

Question: People see Rock ’n‘ Roll as youth culture and when youth culture becomes monopolized by big business what are the youth to do? Do you have any idea?

Answer: I think we should destroy the bogus capitalist process that’s destroying youth culture.

So, als Anfang wäre das schon mal gar nicht schlecht, stimmt.
 
 
The Radio Dept. – Heaven’s On Fire

Sehr feiner Indie-Pop aus Schweden. Perfekter Score für den Frühling.
(Meint auch Thaddi in der aktuellen de.bug – danke für den Tipp!)

The Radio Dept. – Heaven’s On Fire (aus: Clinging To A Scheme, Labrador Records 2010)

Our day will come

Während so genannte Künstler irgendwann einmal so ein bisschen den Arsch hoch und die Zähne auseinander gekriegt und dadurch einem pseudo-engagierten Mitläufer-Mob ihre echt total unvergessliche Gruppen-Experience in der Kölner Südstadt bereitet haben (von denen einige Genossen sicher noch ihren Enkel erzählen würden, hätten sie nicht bereits ihre Fortpflanzungsfähigkeit sozial-verantwortlich wegtherapiert) – ich meine so Bundesverdienstkreuz-bestückte Künstler-Typen wie Wolfgang „Dylan“ Niedecken – einer, der einst auf dicke Hose machte („Stollwerk!! Bollwerk!!“) und erst kürzlich dem Boulevardblatt „Express“ sein jugendliches Missbrauchstrauma offenbarte (offenbar, um auch etwas zur Missbrauchsdebatte im katholischen Puff beizutragen) – gibt es gottseidank inzwischen eine neue Generation von politisch aktiven Künstlern, die wahrhaft Eier in der Hose haben und Statements abliefern, die sich wirklich gewaschen haben.

Zum Beispiel die tamilisch-britische Sängerin Mathangi Arulpragasam – besser bekannt als M.I.A. Zusammen mit dem Regisseur Romain Gavras lieferte sie vor ein paar Tagen einen als Video getarnten Kurzfilm zu ihrem neuen Song »Born free« ab, der aufgrund seiner (vordergründig) verstörenden und unerträglichen Gewalt umgehend von YouTube „zensiert“ wurde (es ist ein Altersnachweis erforderlich, um den Film auf dieser Plattform sehen zu können).

In drastischen – immer aber allegorisch zu verstehenden Bildern – wird darin etwas konsequent zuende gedacht (und gezeigt!), das möglicherweise schon bald real werden könnte, beziehungsweise in viel subtilerer Weise bereits tagtäglich passiert: Neo-faschistische, rassistische Hetzjadgen auf Andersdenkende, in diesem speziellen Fall: Rothaarige. Systemimmanente Gewalt.

Sicher war die Zensur-Keule durch einen Giganten wie Youtube ein Stück weit im Vorfeld mit einkalkuliert – so etwas erzeugt im Netz ja schnell einen irren Buzz, sprich: Aufmerksamkeit.

Zurecht. Es kommt nicht oft vor, dass Künstler (sowohl M.I.A als auch Gavras) so eindeutig wie mutig Stellung beziehen, ihre Haltung ungeschminkt offenbaren und das Vehikel Pop-Kultur benutzen, um Ideen, Visionen und auch Ängste zu formulieren. Für den einen oder anderen ist dieses Video sicher shocking oder einfach nur exzessiv übertrieben. Mag sein. Das sind aber genau die Leute, die bereits lobotomiert und gebrainwashed im spektakulärem Konsumnirvana einbetoniert sind.

Alle anderen atmen erstmal tief durch, dann tief aus: Endlich!
Endlich wagt mal jemand einen Aufbruch!
Dieser Film setzt einerseits einen neuen Maßstab im Bereich Musikvideos (der zu lange schon zur verkaufsfördernden Maßnahme degeneriert ist), andererseits betritt Kunst wieder jenen Sektor, der bisher von tumben, konsequenzlosen und vordergründig merkantil orientierten Tabubrüchen überzogen war:

Ich meine natürlich gesellschaftliche Relevanz.

»Born free« macht wütend. Extrem wütend. Es sind nicht nur die Bilder, es ist insbesondere die Musik, die in einem aggressiven Electro-Punk-Staccato die Synapsen neu verdrahtet.

Wut ist das, was gegenwärtig am meisten fehlt. Gleichgültigkeit und Lethargie, wohin man auch blickt. Doch: Wut macht auch Mut, wenn richtig kanalisiert.

Genau darum geht’s: Nicht immer nur schlucken, ducken und vermeintliche Konkurrenten abfucken, um die eigene, kleine Scholle zu retten. Nein, endlich wirklich mal den Arsch hoch kriegen und sein vertrocknetes Maul aufmachen. Möglicherweise auch ein paar Schläge in die Fresse kriegen. Das ist Teil des Spiels.

Frage: Ist das alles noch Kunst?
Ja. Und zwar in Bestform. Wahre Kunst darf das nicht nur, sie muss.
Your day will come, artist. Thank you.
 
 
M.I.A – Born Free (Official Video, uncut)

Lesen. Aufgelesen.

Es ist ihr Rock, der mir zuerst ins Auge fällt – so ein Jeans-Rock, der fast bis zu den Knöcheln reicht, in verblichenem Indigo und aus einem Stoff, der an Zonen-Gabis Hemd erinnert – jenes auf diesem politisch alles andere als korrekten Cover-Foto der Titanic, vor zwanzig Jahren. Sie quetscht sich mir gegenüber in den Vierer des Regionalexpress nach Köln, schlägt die Beine züchtig übereinander, berührt dabei mein Knie mit ihren flachen, farblosen Schuhen und ich entdecke dunkelgraue Strümpfe, die gefühlt bis unter ihre Achseln reichen müssen. Vom Alter her ist sie undefinierbar. Sie ist wohl so alt wie ich, ihr Äußeres jedoch lässt sie an der Grenze zum Greisenalter erscheinen. Sie meidet meinen Blick, kramt in ihrer Jute-Tasche, während ich meinen MP3-Player auf das nächste Stück skippe – LCD Soundsystem, Drunk Girls, irrer Groove – und in die Sonne blinzle. Irgendwann schaue ich wieder in ihre Richtung, weil der Schaffner im Hintergrund erscheint – und habe plötzlich die Halluzination, ein teutonisches Exemplar der Mormonen-Sekte vor mir sitzen zu haben. Und tatsächlich, wie der Teufel es will: die Frau liest in einem Buch, dass Buch ist antik und schwarz, es hat einen abgewetzten Einband – und auf dem Falzrücken steht in Sütterlin-Schrift »Die Bibel«. Ich sehe ihre Augen langsam über die Worte wandern. Sie ist etwa in der Mitte der heiligen Schrift vertieft – irgendwo zwischen Hiob und Hohelied. Sie spürt nach einem Moment offenbar meinen Blick auf sich. Wirkt überrascht, dann gehetzt. Klappt die Bibel zu, stopft sie in die Tasche, steht übereilt auf und geht wortlos in ein anderes Abteil. Ich blicke ihr nach und frage mich, ob ich möglicherweise etwas falsch gemacht haben könnte.

Sein Maleranzug ist mit lustigen Farbsprenkeln übersäht. Mit einem leisen »Uff« setzt er sich mir gegenüber auf die Sitzbank in der Linie 16 Richtung Süden. Sein Gesicht ziert ein Dreitagebart, an den Füßen: die für seinen Job wohl obligatorischen Arbeitsschuhe. Sie sind verstaubt – genau wie sein Rucksack, den er sich nun auf den Schoß wuchtet. Ein neuer Tag auf irgendeiner Baustelle wartet wohl auf ihn. Nach einem Moment beginnt er in seinem Rucksack zu kramen – was kommt jetzt? Kölsch, Express? – nein, er fischt ein vergilbtes DTV-Taschenbuch heraus, zieht sehr sorgsam den Reißverschluss des Rucksacks zu und vertieft sich in die Lektüre. Das Cover des Buches kommt mir bekannt vor. Neugierig schaue ich genauer hin und entdeckte, dass es »Haben oder Sein« von Erich Fromm ist. Ich versuche in den Furchen seines Gesichts eine Erklärung dafür zu finden. Nichts. Ein ganz normaler Maler. Hinterm Barbarossaplatz streifen Sonnenstrahlen sanft seine Wangen. Und ich frage mich, ob nicht doch noch Grund zur Hoffnung besteht.

Er macht bestimmt in Marketing, dieser gegelte Typ im Casual-Business-Dress – erster Hemdknopf offen unter seinem Boss-Anzug – er steht breitbeinig im Restsonnenlicht am Nordwestausgang des Kölner Hauptbahnhofs, unweit der Junkie-Notstation, und schaufelt gelangweilt gebratene Nudeln aus dem Karton in seinen Mund – sie sind ausschließlich dekoriert mit leichtem Gemüse, sanft gedünstet, gesund. Sein Blick schweift weltmännisch über den tristen Vorplatz, wo es eigentlich nichts zu sehen gibt – die Junkies nahe des Bahnhofeingangs übersieht er dabei bewusst. Ihr Äußeres ist ja wenig appetitanregend. Ich stehe etwas abseits neben einer der großen Flügeltüren aus gebürstetem Metall, neben einem qualmenden Aschenbecher und rauche meine letzte Zigarette in dieser Domstadt, bevor ich in den Zug Richtung Provinz steige. Mit einer lässigen Geste drückt der Casual-Business-Mann seine Gabel in jenen Karton, den asiatische Schriftzeichen zieren. Ich habe keine Ahnung, was sie bedeuten. Vielleicht: „Dumme Deutsche versprechen gute Geschäfte“. Mit dynamischen Schritten kommt er mir entgegen, bleibt vor der Mülltonne neben dem Aschenbescher stehen und lässt den Karton sanft in den Abfallsack plumpsen. Ich erkenne, dass er mindestens die Hälfte der Mahlzeit nicht gegessen hat. Er wischt sich schnell mit einer Papierserviette über den Mund, greift innen ins Sakko, fischt ein iPhone raus und beginnt offensiv damit zu hantieren. Er ist stolz auf sein schickes Gadget und bedacht, dass auch jeder es sieht. Einer der Junkies, die nur ein paar Meter von uns stehen, blickt tatsächlich interessiert herüber. Dann kommt er auf uns zu. Aber nicht dem Mobiltelefon gilt sein Interesse, sondern dem Karton mit asiastischen Zeichen in der Mülltüte. Ohne groß zu zögern greift er in die Tonne, holt den Nudel-Karton aus dem Dreck, klappt den Deckel auf, fummelt die Gabel raus und beginnt, die Reste der Marketing-Menschen-Mahlzeit genüsslich zu essen.

– Ich habe ’nen Mordshunger, Alter!

Er schaut mich entwaffnend an, während er schlürfend die glitschigen Nudeln in seinen Mund zieht. Der Casual-Business-Mann macht derweil auf Autist. Oder ist vielleicht sogar einer. Die ganze Aktion hat er sehr wohl mitbekommen. Vielleicht ist auch die App, mit der er gerade rumspielt, nur so schweineinteressant. Es ist mir egal.
Ich frage den Junkie, aus dessen rotem Gesicht nun schmatzende Geräusche tönen, ob ich ihm eine Kippe drehen soll – quasi als Nachtisch. Er grinst und nickt hocherfreut.

Der neue Reichtum der Kommunikation

Beim täglichen Durchforsten der Feeds und Tweets kommen mir diese – inzwischen über 20 Jahre alten – Sätze plötzlich wieder sehr brandaktuell vor:

Die inhaltsleere Diskussion über das Spektakel, das heißt über das, was die Eigner dieser Welt treiben, wird so durch das Spektakel selber organisiert: man legt Nachdruck auf die enormen Mittel des Spektakels, um nichts über deren umfassende Verwendung zu sagen. So wird der Bezeichnung Spektakel oft die des Mediensektors vorgezogen. Damit will man ein einfaches Instrument bezeichnen, eine Art öffentlichen Dienstleistungsbetrieb, der mit unparteiischen »Professionalismus« den neuen Reichtum der Kommunikation aller mittels Mass Media verwaltet, der Kommunikation, die es endlich zur unilateralen Reinheit gebracht hat, in der sich selig die bereits getroffene Entscheidung bewundern läßt. Kommuniziert werden Befehle, und in bestem Einklang damit sind die, die sie gegeben haben, und auch die, die sagen werden, was sie davon halten.

Guy Debord: Kommentare zur Gesellschaft des Spektakels (1967,1988)

Big buzz for the brain-dead – 2.0. Wie gehabt.

Healing force – part 5

Dieses Stück ist eine Kampfansage – ein Crescendo des Aufbruchs, wohin auch immer: Zur Freiheit, zu innerem Wachstum. Oder zum Zertrümmern all der Dinge, die einen kaputt machen.
Das Falsett des Sigur Rós-Sängers Jónsi umkreist in Variationen dieses Thema, wird unterfüttert von sakralen, subfrequenten Orgeln (die nicht nur entfernt an Meister Bach erinnern) – all dies steuert auf ein zertrümmerndes, aber erlösendes Drumfinale zu, das alles in seine digitalen Einzelteile zerlegt und Platz für Neues schafft. Stichworte: Asche, Phoenix, Wiederauferstehung.
Laut hören. Es wirkt.
Heute morgen im Zug hätte ich vor lauter Kraft sämtliche Mitfahrer knuddeln können.

You’ll know, when’s time to go on
You’ll really want to grow and grow till tall
They all, in the end, will follow

You’ll… know
You’ll… know
You’ll… know…

 
Jónsi: Grow Till Tall, vom Album »Go«, das Anfang April auf Parlophone veröffentlicht wird.
 
 
Jónsi – Grow Till Tall

Aus gegebenem Anlass: Der Sonne zu

Ja, man kann seine pubertäre Sprachlosigkeit natürlich bis zum getno raus rotzen, dabei obzöne und somit leere Bilder im Takt einer Stalinorgel abfeuern, Sex pro Seite, damit’s hoffentlich einschlägt und natürlich noch Giorgio Agambens Homo Sacer subtil einflechten und selbstverständlich nur so tun, als würde man mit dem als ob bloß kokettieren – dies alles gespeist aus dem Wunsch, die Unmöglichkeit von echten Möglichkeiten zu beklagen und die damit einhergehende Desillusion medienwirksam (und sicher auch selbstbefreiend) zu plakatieren. Dass egomane und sogenannte Kritiker dies immens becirct, ist dabei kalkulierter Kollateralschaden.
Zurück bleibt allerdings weiter nichts als: Dunkelheit.

Man kann dieses Leben aber auch einfach nur leben, es zumindest versuchen – und dabei sein Menschsein beherzt und mit allen noch verbliebenen Zähnen verteidigen, immer wieder aufstehen, wenn es einen in die Knie zwingt, trotzdem tapfer lächeln und anschließend genau davon erzählen. Jedoch leise, unprätentiös aber um so präziser. Vor allem aber: liebevoll.
Die Dunkelheit wird so natürlich auch nicht verscheucht. Zurück bleibt jedoch immer ein Funken, ein kleines, schwaches Licht.
Dafür aber eines mit einem umso nachhaltigeren und sehr sanften Fade-out.

Jörg Fauser wurde 1987 in einem echten Roadkill dahin gerafft, viel zu früh.
Gerade jetzt könnten wir ihn brauchen.

FRÜHLINGS-SZENE

Gegen Mittag ein Rettungswagen
in der Vorortstraße. Zuerst sind
immer die Kinder da. Dann
spähen die Eltern aus den Fenstern,
aus der Bäckerei, dem Blumenladen,
dem Damensalon: auf starren Fratzen
Rouge wie Schußwunden, auf verzerrten Lippen
Worte wie Blutstropfen. Sie wissen nicht

warum, aber wenn es am hellichten Tag
nebenan einen erwischt, bleibt an ihnen
ein Makel hängen, wie eine Spielschuld,
die sie nicht mehr abzahlen können,
und peinlich berührt fragen
sie sich: wird es mich auch
beim Mittagessen treffen? Wird
der Notarzt Kaugummi kauen
und werden die Kinder rufen,
kuck mal – die hat ja
ganz blaue Füße?

Sie sehen dann aus, als habe das Leben
sie nicht recht überzeugt, seine Torte,
seine Blumen, seine Dauerwellen,
seltsam! Dabei wirken die Häuser hier
so selbstbewußt wie die Autos
und der Rasen, so überzeugend
wie die Kinder und der
Rettungswagen, in den jetzt
das Bündel auf die Bahre
geschoben wird. Ein Wermutbruder

taucht plötzlich auf, winkt dem Bündel
mit seinem Flachmann und lacht: Hallo Hein,
hast du noch ein Bett frei? Der Wermutbruder
hat als einziger keine Angst vor dem Tod,
kein Wunder bei seinem Rausch, und sonst
spricht eigentlich nichts für ihn. Aber
er macht sich gut, um das Problem der Leere
zu lösen, das sich auftut, wenn der Rettungswagen
sein Opfer wegfährt, denn so ganz ohne Übergang

läßt es sich ja nicht zurückkehren zur Schlagsahne,
zu Fleurop und zur Trockenhaube, wenn man gerade
den Tod in Aktion gesehen hat –
live, in Farbe, im vierten Programm, gebührenfrei!
Aber da läßt sich dann der Wermutbruder, dieser
Penner, einfach ins Gras fallen, wirft seinen Hut
in die Luft als ob im Frühling das Leben nur
eine Lust und der Tod eine Selbstverständlichkeit
sei, und leert seinen Flachmann vor aller Augen!
Schamlos! Rettet die Kinder vor ihm! Rettet

das Mittagessen! Rettet euch selbst und rettet
den Tod! Und schon ist die Straße wie
ausgestorben, bis auf den Wermutbruder,
der immer noch auf dem Rasen sitzt
und auf seinen Hut wartet.
Wo bleibt denn der Hut?
Der Hut hängt im Baum.
Der Wermutbruder lacht,
umarmt den Baum, angelt sich
den Hut und stolpert stadteinwärts,
der Sonne zu.

9.–11. 3. 1979

— Jörg Fauser: Frühlings-Szene, in: Trotzki, Goethe und das Glück, Alexander Verlag, Berlin 2004

Dank an Alexander Wewerka für die freundliche Genehmigung, Fausers Gedicht hier zu veröffentlichen.

Himmel und Hölle – Deutschland im Vormärz

Es gibt Tage, die sind rund – sie verlaufen harmonisch, beginnen leise, haben einen oder mehrere Höhepunkt und klingen sanft und friedlich aus. Und es gibt Tage, die sind eckig – irgendwann läuft es in eine völlig unerwartete Richtung, mit meist unangenehmen Wendungen, zurück bleibt ein Gefühl der Erleichterung, wenn sie enden. Letztlich gibt es aber auch Tage, die sind derart paradox, dass man Schwierigkeiten hat, die vergangenen 24 Stunden als ein Kontinuum zu begreifen, weil der Gesamtverlauf keinen Sinn macht und sich jeder Einordnung entzieht. Scheinbar.

Gestern war so ein Tag.

Ungemein mild war der Morgen, nach all dem Frost. Der dicke Dompfaff im Pflaumenbaum vor dem Küchenfenster verstand dies sofort als Aufforderung, sich noch mehr aufzuplustern als sonst und pumpte übermütig noch ein Quentchen mehr Farbe in sein Brustgefieder. Bester Dinge machte ich mich auf ins Büro.

Die fünf Minuten Wartezeit am Bahnhof verbringe ich meist in stiller Kontemplation: Mein Blick schweift dabei über die Auen der Sieg, die frühen Vogelschwärme in geschäftiger Aktion – all dies im schönen Licht des dämmernden Tages. Dass ich dabei rauche ist eigentlich nicht erwähnenswert, im diesem speziellen Fall aber essentiell.

Ich stehe also da, ziehe hin und wieder an meiner Zigarette und erfreue mich trotzdem am Duft des Nebels, der vom Wasser des Flusses unterhalb der Gleise zu mir hoch zieht, als ich aus den Augenwinkeln jemanden mit energischem Schritt auf mich zu stapfen sehe. Abrupt bleibt er vor mir stehen, sein Keuchen mühsam unterdrückend, mit einem Gesichtsausdruck, der entschlossen wirken soll.

– Finden Sie das okay?
– Was finde ich okay?
– Dass Sie hier rauchen?

Ich überlege einen Moment. Worauf will er hinaus? Ich wähle die Karte: Ehrliche Antwort.

– Naja, ich rauche gern noch eine Zigarette, bevor ich in den Krieg ziehe, antworte ich freundlich.

Kurzes Schweigen. Ich kann förmlich sehen, wie der Mann mir gegenüber genüsslich all die Worte in seinem Kopf zusammenklaubt, die er sich zwei Minuten vorher mühsam erarbeitet hat.

– Dies ist ein rauchfreier Bahnhof. Machen Sie bitte die Zigarette aus.

Ich betrachte mein Gegenüber genauer: Ein großer Mann steht da, ungefähr Mitte 50. Ein freundlicher grauer Bart umspielt seine etwas verbissenen Lippen. Echt gepflegt, dieser Mann und auf Etiquette bedacht, finde ich. Obendrein läuft er kostenlos Werbung für Jack Wolfskin: Jacke, Rucksack, Schuhe – alles ziert die momentan wohl unvermeidliche Tatze. Schon hat er verloren.

– Schauen Sie sich doch bitte mal um, antworte ich mit einem Lächeln und deute auf den Bahnhof, der im Grunde nichts anderes ist als ein betonierter Ponton mit Gleisanschluss.

– Ich glaube kaum, dass sich hier irgendjemand von meinem Zigarettenrauch belästigt fühlt. Sie wohl am wenigsten, da Sie vor einer Minute noch da hinten unter dem Holzdach standen.

Dabei zeige ich auf den hinteren Bereich des Bahnsteigs, der etwa 20 Meter entfernt ist. Ich selbst stehe am anderen Ende des Pontons, unter freiem Himmel, neben einer Umspannstation, die die hiesige Bevölkerung weiträumig umschifft aufgrund vermeintlicher und böser elektromagnetischer Strahlen. Mich interessiert das nicht, ich bin immun gegen böse Schwingungen – und gewöhnlich auch gegen böse Blicke.
Demonstrativ blase ich eine dicke Wolke aus. Sie zieht an der Umspannstation vorbei. Augenscheinlich belästigt der Qualm niemanden – höchstens ein paar Maden, die in der Kiefer hinter dem Bahnsteig dösen. Ein Husten ist von ihnen jedoch nicht zu hören.

– Sie dürfen hier aber nicht rauchen. Es gibt schließlich Regeln.

Was soll man darauf antworten? Ich überlege und ziehe die Karte: Gesunder Menschenverstand. Auch übe ich mich weiterhin in Freundlichkeit.

– Ja, da mögen Sie Recht haben. Aber nicht alle Regeln machen Sinn. Sie geben meist nur einen Rahmen vor, der kreativ gefüllt werden will. Denken Sie mal an die Steuergesetze.

Kurzes Schnaufen.

– Sie halten sich wohl für etwas Besseres, zischt es zurück. Sie meinen wohl, für Sie gelten keine Regeln, was?

Okay. Dieses Gespräch wird länger dauern, wenn ich nicht aufpasse. Das will ich nicht. Ich kürze also ab, in der Hoffnung, bei diesem Mann – Lehrer oder Ex-Kettenraucher oder beides – auf Einsicht zu stoßen.

– Nein. Wenn mir eine Regel sinnvoll erscheint, dann halte ich sie auch gerne ein. Im Zug, zum Beispiel, da rauche ich nicht, weil ich niemanden mit meinem Qualm belästigen möchte. Verstehen Sie, was ich meine?

Er will nicht verstehen.

– Junger Mann (ich fühle mich natürlich sofort geschmeichelt), Sie machen einen sehr intelligenten Eindruck auf mich (jetzt fühle ich mich allerdings weniger geschmeichelt, weil ich begreife, dass er versucht, mich auf diese Tour rum zu kriegen) – wollen Sie nicht verstehen, dass es hier ums Prinzip geht?

Das war leider das falsche Stichwort. Ich hasse Prinzipienreiter. Dementsprechend ändert sich auch meine Tonlage. Dieser Mensch ist nur noch lästig.

– Okay, abschließende Antwort, weil unsere Unterhaltung zu nichts führt: Ich rauche meine Zigarette hier zu ende und werde auch morgen früh wieder eine rauchen. Zwar ist dies hier korrekt betrachtet ein rauchfreier Bahnhof und Raucher sollen einen Raucherbereich nutzen, der leider nicht kenntlich gemacht ist. Ich stehe weit genug entfernt von jeglicher Person. Niemanden – außer mir und meiner Lunge vielleicht – entsteht dadurch ein Schaden. Und nun treten Sie bitte ein Stück zurück – ein Meter sozialer Mindestabstand sollte schon drin sein, finden Sie nicht?

Vergeblich.

– Warum weichen Sie einem Diskurs aus?, säuselt der Oberlehrer. Es geht darum, dass nicht jeder machen kann, was er will. Oder finden Sie das etwa auch okay, wenn Jugendliche mit einem Baseballschläger auf unschuldige Rentner einprügeln? Diese Asozialen halten sich ja auch nicht an Regeln.

Offenbar will er nicht begreifen. Und ich werde langsam wütend.

– Mein Rauchen hat mit verbitterten Kids nichts zu tun. Und Ihre Prinzipen ändern auch nichts an dieser Tatsache. Im Gegenteil: So eine Haltung wie Ihre — ich nenne sie mal salopp ‚Blockwartmentalität‘ — war dafür verantwortlich, was ’33 passieren konnte. Und nun hören sie endlich auf, mich zu nerven. Ich diskutiere ungern mit Faschisten.

Sein Gesicht wird rot.

– Was haben Sie gesagt? Das lasse ich nicht auf mir sitzen!

Ich schnippe wortlos die Kippe in den Busch neben der summenden Trafostation. Konsterniert und wutschnaubend blickt er mich an.

– Wissen Sie, was Marderspray ist? Das bringe ich morgen mit. Dann werden wir schon sehen.

Der Zug läuft ein und ich achte darauf, dass mir dieser Mensch nicht in den gleichen Waggon folgt.

Mein Arbeitstag verläuft in gewohnter Routine: Kindischer Stress, jede Menge menschlicher Abgründe und nichtsdestotrotz zahlreiche stille Momente voller Poesie und Schönheit. Dann Feierabend und Rückweg. Mein Zug hält wieder am Ponton mit Gleisanschluss, diesmal aus umgekehrter Richtung. Inzwischen ist es dunkel. Ich steige in meinen Wagen, fahre vom Parkplatz und bemerke, dass ein junger Mann mit diversen Trolleys zaghaft seinen Daumen raushält, um mir zu signalisieren, dass er einen Lift braucht. Ich bremse neben ihm und mache von innen die Beifahrertür auf.

– Wo musst du hin?

Der junge Mann scheint nicht glauben zu können, dass ihn jemand mit nehmen möchte. Er zögert einen Moment.

– Komm, steig ein. Um diese Zeit fährt hier kein Bus mehr.

Völlig perplex wirft der Junge seine sieben Sachen in diverse Bereiche meines Kombis und steigt endlich ein. Er hat seine Sprache immer noch nicht gefunden, als ich los fahre.

– Ich muss Richtung Dattenfeld. Soll ich dich irgendwo raus lassen? Ist das überhaupt deine Richtung?

Endlich findet der Junge wieder Worte und eröffnet mir, dass er zum Internat auf dem Berg muss. Alles klar, kenne ich, kein Problem.
Im Laufe der kurzen Fahrt plaudern wir über dies und das. Dass er in die 11. Klasse geht ist nicht schwer heraus zu finden – seine Art zu Erzählen und sein Äußeres sind einfach zu verräterisch. Wir sprechen über Abi-Stress und G8, über meine Tochter, deren Namen er unbedingt wissen will und über meine überaus entspannte Zeit in der Oberstufe, damals, als ich stets erst gegen 12.00 in der Schule auflief, weil ich nur die Mindeststundenzahl belegt hatte. Wir lachen viel, während wir an der Hochwasser-geschwängerten Sieg entlang tuckern.

– Hey, Sie sind echt ein total netter Kerl. Bisher haben mich nur Frauen mitgenommen, nie Männer, sagt er dann unvermittelt.

Was soll ich darauf antworten? Ich ziehe das Schweigen vor. Irgendwann halten wir vorm Internat, ich drehe den Motor ab. Wir sitzen nebeneinander vorne im Auto und blicken auf die blinkende Hausnummer des Schulgebäudes. Schweigen. Dann:

– Wissen Sie was? Sie sind echt der netteste Mensch, der mir je begegnet ist, sagt er nach einem langen Moment.

– Quatsch, du übertreibst, antworte ich und meine es genauso, wie ich es sage.

– Nee, wirklich. Ich habe bisher noch niemanden getroffen, der so nett ist, wie Sie.

Dieser 17-jährige Junge blickt mich strahlend von der Seite an und weiß nicht, ob er jetzt aussteigen und seine Sachen nehmen soll. Ich denke einen Augenblick über seine Worte nach.

– Das ist schade, antworte ich nach einem Moment. Wäre es nicht viel schöner, wenn man viel öfter im Leben netten Menschen begegnen würde?

Der Junge denkt schweigend über meine Worte nach, grinst, steigt aus, zieht seine diversen Trolleys und Koffer aus dem Auto, schließt die Türen und winkt mir im Gehen noch mehrmals freundlich zu.

– Vielen Dank! Und grüßen Sie Ihre Tochter von mir, ruft er noch, als ich den Wagen wende und ich mich mit einer stummen Geste von ihm verabschiede.

Während der restlichen Minuten meiner Heimfahrt denke ich über diesen merkwürdigen Tag nach. Mich überkommt schließlich die leise Hoffnung, dass noch nicht alles verloren ist. Es kann zukünftig nur besser werden. Und ich leiste gerne meinen Beitrag dazu.

Heroes – We can be us, just for one day

Im Zug gesessen. Musik gehört. Geweint.
 
 

Offenbar ist es nicht mehr erlaubt, das Wort Schönheit zu gebrauchen. Natürlich, es ist furchtbar abgenutzt. Und dennoch kenne ich die Sache gut. Gewiß ist dieses Urteil über Bäume merkwürdig, wenn man darüber nachdenkt. Was mich angeht, der wirklich nicht viel von der Welt versteht, so frage ich mich langsam, ob jenes »Allerschönste«, das ich instinktiv als solches empfand, nicht das ist, was dem Geheimnis der Welt am nächsten kommt, die getreueste Übersetzung der Botschaft, von der man zuweilen glaubt, sie würde uns zugeworfen durch die Luft; oder, wenn man so will, die richtige Öffnung auf das, was anders nicht erfasst werden kann, auf diese Art von Raum, den man nicht betreten kann, den jedoch sie für einen Augenblick enthüllt. Wenn nicht etwas Ähnliches dahintersteckt, wären wir schön dumm, darauf hereinzufallen.

 
Philippe Jaccottet, in: Der Unwissende

EDIT:

Heroes« is heroism in the face of oppression. It’s something triumphant despite the desparate situation. […] We tried a few ways in looking at it and it always felt a bit like a »bar-band« and I wasn’t very happy. Then I’m started finding some guitar – acoustic guitar samples – that became a sound-texture. And although one of the rules for the record was not to use guitars or drums, it created enough of the mood. So then, having set up this mood, I think is around the time, that we first met John Metcalfe and I started thinking: This guy’s amazing, I’d love to work with him! And then he took that away, took the vocals off and started putting in his own arrangement. And it’s pretty much exactly what he came back with, which I thought was one of the best arrangements – string arrangements – I’d ever heared on a rock song. I think it’s beautiful. Because – without any drums, without any drive of enormous Rock ’n Roll tools, which always seem to keep out of the original song – there’s an enormous tension, that sort of explodes out and which is why I chose it to open the record.

— Peter Gabriel über »Heroes« @ Fullmoon Club Podcast
 
 
Peter Gabriel – Heroes

Der Job (revisited)

Phlippe Jaccottet musste wohl erst 85 werden, damit ich ihn entdecke. Und nun lächelt auch Konstantin Paustowskij gütig von seiner Wolke; macht mir Mut.

Wenn ich doch etwas gewollt habe in diesem Leben, in dieser Arbeit, dann dies: So wenig wie möglich zu mogeln; weder der Versuchung der Eloquenz nachzugeben noch den Verführungen des Traums oder den Reizen des Ornaments; genausowenig den gebieterischen Vereinfachungen des Intellekts oder dem falschen Glanz der Okkultismen, ganz gleich, welchen Schlages. Zu versuchen, dem, was man fühlt, immer so nahe wie möglich zu bleiben, als gebe es wirklich Wendungen, Rhythmen, Worte, die »wahrer« sind als andere; als gebe es, trotz allem, eine Art von »Wahrheit«, die ein, ich weiß nicht welches, Sinnesorgan in uns genauso aufspüren würde wie die Lüge. Und wenn es diese Art von Wahrheit geben sollte, folgte für uns daraus nicht notwendigerweise eine Art von Hoffnung?

— Philippe Jaccottet (2002), im Vorwort zu: Der Unwissende

In loser Folge werde ich hier weitere Texte von Jaccottet einstreuen. Sie sind es wert. Und noch viel mehr als das.