Hätt‘ ich ein größeres Gehirn

Jeder andere wäre gnadenlos in den Kitsch entglitten – bei diesem Thema: Hühnermassenhaltung: Herzschmerz und »Ein bißchen Frieden.« Doch Peter Broderick, dieser geniale und noch sehr junge Poet, schafft das nahezu Unmögliche und eröffnet uns durch seine gefühlvolle Introspektion in das Hirn eines Schnitzels in spe völlig neue Zugangswege zum Leid dieser gefiederten Insustrieprodukte. Schon allein der Titel des Songs – »Human Eyeballs on Toast« – verdient Respekt: Selten wurde berechtigte Wut so kunstvoll-assoziativ in Worte gemeißelt. Und dient obendrein als Allegorie der gegenwärtigen conditio humana.

Das Stück ist übrigens Titel No. 2 seines kürzlich auf Bella Union erschienen Albums »How They Are«, das quasi in einem Rutsch und ungefiltert auf einem 4-Spur-Rekorder aufgenommen wurde.

Dass dieses Album empfehlenswert ist muss ich hier nicht extra erwähnen.
Erwähnen möchte ich allerdings, dass Peter in Kürze einer seiner seltenen Auftritte in Deutschland hat:
Am 12. Oktober im Steinbruch, Duisburg.
Und ich werde natürlich da sein.
 
 
Peter Broderick – Human Eyeballs On Toast (Studio Recording)

Nicht nur im Anfang: Das Wort

Worte haben Macht. Und das meist sogar ohne jegliche Gewalt. Oft reicht schon der Klang. Für Assoziationen. Und das Prägen unserer Gedanken und Gefühle.
Will Hoffmann (dessen wunderbares Video »Moments« hier schon vorgestellt wurde) hat zusammen mit Daniel Mercadante für Radiolab einige eben jener Worte in vielschichtige Bilder verwandelt. Mal humorvoll, mal tiefsinnig. Immer jedoch anregend.

Früher, als ich noch als Script-Editor tätig war, hatte ich eine wiederkehrende Phantasie: Szenen von nicht ganz so sprachbegabten Autoren ganz wörtlich zu verfilmen, also: „Er schoss um die Ecke“, „Sie beschleunigte ihren Schritt“, „Sie treten aufs Gas“. Ist leider nichts draus geworden – nein, eher: Gottseidank! Denn Wills Version ist einfach viel poetischer.

Das gleiche gilt auch für die Musik: Der Score ist nämlich von Keith Kenniff (er sollte hier auch schon hinlänglich bekannt sein). Keith hat übrigens heute unter seinem Goldmund-Label ein neues Album namens »Famous Places« auf Western Vinyl veröffentlicht. Er beschreibt darin musikalisch einige wichtige Orte seines Lebens.
Das Stück »Fort McClary« daraus gibt es hier als freien Download.

Genug der Worte: Film ab.
 
 
Radiolab and NPR – Words

Where the hurt comes from

Sehr schöne Idee – sehr nachahmenswert: Man nehme ein x-beliebiges, verblödendes Wahlplakat/Werbeplakat und korrigiere es ein bisschen — mit Poesie.

So geschehen kürzlich in London: Das „Shoreditch Department of Advertising Correction“ zeichnet sich verantwortlich für diese kreative Aktion in London vom 19. April 2010.

Es waren übrigens Wahlplakate der Konservativen.

Mehr davon hier.

(via rebel:art)

Life is real only then when I am

So fühlt sich das an: Ein Sonntag auf dem Land, mit Blick auf die Lärchen, die im Wind sanft schaukeln.

Eluvium: The Motion Makes Me Last

How does the motion make me last?
I shuffle forward and I’m back
I can be questioning my thoughts
but not looking for what I lack
what is it that has my mind so hypnotized?
shapes are for looking at
and their colours create my mood
I’m a vessel between two places I’ve never been

To sink further and reform design
creation as a pathogen
what’s more than subtle in these (heights?)
I know you’re looking forward to them
what is it that has my mind so hypnotized?
Evolving on a thought that you’ve half realized
life is real only then when I am but I am I am surprised
shapes are for looking at
and their colours create my mood
I’m a vessel between two places I’ve never been

Eluvium: The Motion Makes Me Last (aus: Similes, erschienen auf Temporary Residence Limited)
 
 
Eluvium – The Notion Make Me Last

Aus gegebenem Anlass: Der Sonne zu

Ja, man kann seine pubertäre Sprachlosigkeit natürlich bis zum getno raus rotzen, dabei obzöne und somit leere Bilder im Takt einer Stalinorgel abfeuern, Sex pro Seite, damit’s hoffentlich einschlägt und natürlich noch Giorgio Agambens Homo Sacer subtil einflechten und selbstverständlich nur so tun, als würde man mit dem als ob bloß kokettieren – dies alles gespeist aus dem Wunsch, die Unmöglichkeit von echten Möglichkeiten zu beklagen und die damit einhergehende Desillusion medienwirksam (und sicher auch selbstbefreiend) zu plakatieren. Dass egomane und sogenannte Kritiker dies immens becirct, ist dabei kalkulierter Kollateralschaden.
Zurück bleibt allerdings weiter nichts als: Dunkelheit.

Man kann dieses Leben aber auch einfach nur leben, es zumindest versuchen – und dabei sein Menschsein beherzt und mit allen noch verbliebenen Zähnen verteidigen, immer wieder aufstehen, wenn es einen in die Knie zwingt, trotzdem tapfer lächeln und anschließend genau davon erzählen. Jedoch leise, unprätentiös aber um so präziser. Vor allem aber: liebevoll.
Die Dunkelheit wird so natürlich auch nicht verscheucht. Zurück bleibt jedoch immer ein Funken, ein kleines, schwaches Licht.
Dafür aber eines mit einem umso nachhaltigeren und sehr sanften Fade-out.

Jörg Fauser wurde 1987 in einem echten Roadkill dahin gerafft, viel zu früh.
Gerade jetzt könnten wir ihn brauchen.

FRÜHLINGS-SZENE

Gegen Mittag ein Rettungswagen
in der Vorortstraße. Zuerst sind
immer die Kinder da. Dann
spähen die Eltern aus den Fenstern,
aus der Bäckerei, dem Blumenladen,
dem Damensalon: auf starren Fratzen
Rouge wie Schußwunden, auf verzerrten Lippen
Worte wie Blutstropfen. Sie wissen nicht

warum, aber wenn es am hellichten Tag
nebenan einen erwischt, bleibt an ihnen
ein Makel hängen, wie eine Spielschuld,
die sie nicht mehr abzahlen können,
und peinlich berührt fragen
sie sich: wird es mich auch
beim Mittagessen treffen? Wird
der Notarzt Kaugummi kauen
und werden die Kinder rufen,
kuck mal – die hat ja
ganz blaue Füße?

Sie sehen dann aus, als habe das Leben
sie nicht recht überzeugt, seine Torte,
seine Blumen, seine Dauerwellen,
seltsam! Dabei wirken die Häuser hier
so selbstbewußt wie die Autos
und der Rasen, so überzeugend
wie die Kinder und der
Rettungswagen, in den jetzt
das Bündel auf die Bahre
geschoben wird. Ein Wermutbruder

taucht plötzlich auf, winkt dem Bündel
mit seinem Flachmann und lacht: Hallo Hein,
hast du noch ein Bett frei? Der Wermutbruder
hat als einziger keine Angst vor dem Tod,
kein Wunder bei seinem Rausch, und sonst
spricht eigentlich nichts für ihn. Aber
er macht sich gut, um das Problem der Leere
zu lösen, das sich auftut, wenn der Rettungswagen
sein Opfer wegfährt, denn so ganz ohne Übergang

läßt es sich ja nicht zurückkehren zur Schlagsahne,
zu Fleurop und zur Trockenhaube, wenn man gerade
den Tod in Aktion gesehen hat –
live, in Farbe, im vierten Programm, gebührenfrei!
Aber da läßt sich dann der Wermutbruder, dieser
Penner, einfach ins Gras fallen, wirft seinen Hut
in die Luft als ob im Frühling das Leben nur
eine Lust und der Tod eine Selbstverständlichkeit
sei, und leert seinen Flachmann vor aller Augen!
Schamlos! Rettet die Kinder vor ihm! Rettet

das Mittagessen! Rettet euch selbst und rettet
den Tod! Und schon ist die Straße wie
ausgestorben, bis auf den Wermutbruder,
der immer noch auf dem Rasen sitzt
und auf seinen Hut wartet.
Wo bleibt denn der Hut?
Der Hut hängt im Baum.
Der Wermutbruder lacht,
umarmt den Baum, angelt sich
den Hut und stolpert stadteinwärts,
der Sonne zu.

9.–11. 3. 1979

— Jörg Fauser: Frühlings-Szene, in: Trotzki, Goethe und das Glück, Alexander Verlag, Berlin 2004

Dank an Alexander Wewerka für die freundliche Genehmigung, Fausers Gedicht hier zu veröffentlichen.

Der Job (re-revisited)

Politik ist mitunter poetisch; wahre Poesie letztlich immer auch politisch. Schön ist der Moment, wenn sich Kreise zufällig schließen und der stille Schrei unvermittelt ein lächelndes Echo aus der Ferne erfährt – aufmunternd und tröstend:

»Wir nehmen die Menschen weder isoliert voneinander wahr, noch getrennt von den anderen Wesen der Welt; wir sehen sie durch vielfältige Bindungen verknüpft, die zu verneinen sie gelernt haben. Diese Verneinung erlaubt es, die affektive Zirkulation zu blockieren, durch die diese vielfältigen Bindungen empfunden werden. Diese Blockade ist ihrerseits nötig, damit man sich an das neutralste, farbloseste, durchschnittlichste Regime der Intensität gewöhnt, dasjenige, das einen dazu bringt, sich Urlaub, die Wiederkehr der Mahlzeiten oder entspannte Abende als eine Wohltat zu wünschen – will sagen Dinge, die genauso neutral, durchschnittlich und farblos sind, frei gewählt. Von diesem Regime der Intensität, es ist in der Tat sehr verwestet, nährt sich die imperiale Ordnung.

Uns wird gesagt: Indem ihr die emotionellen Intensitäten verteidigt, die im gemeinsamen Experimentieren entstehen, widersprecht ihr dem, was die Lebewesen zum Leben verlangen, nämlich Annehmlichkeit und Ruhe – übrigens heute zu hohem Preis verkauft, wie jedes verknappte Lebensmittel. Wenn man damit meint, dass unser Standpunkt unvereinbar ist mit autorisierter Freizeit, dann könnten selbst die Wintersportfanatiker annehmen, dass es kein großer Verlust wäre, alle diese Skistationen abbrennen zu sehen, und den Platz den Murmeltieren zurückzugeben. Hingegen haben wir nichts gegen die Zärtlichkeit, die alle Lebewesen als Lebewesen mit sich tragen. „Es könnte sein, dass Leben etwas Zartes ist“, irgendein Grashalm weiß es besser als alle Bürger der Welt.

 
TIQQUN, in: Der Aufruf (2003)

Die Wette gilt. Und es ist egal, wer zuerst ankommt.

Himmel und Hölle – Deutschland im Vormärz

Es gibt Tage, die sind rund – sie verlaufen harmonisch, beginnen leise, haben einen oder mehrere Höhepunkt und klingen sanft und friedlich aus. Und es gibt Tage, die sind eckig – irgendwann läuft es in eine völlig unerwartete Richtung, mit meist unangenehmen Wendungen, zurück bleibt ein Gefühl der Erleichterung, wenn sie enden. Letztlich gibt es aber auch Tage, die sind derart paradox, dass man Schwierigkeiten hat, die vergangenen 24 Stunden als ein Kontinuum zu begreifen, weil der Gesamtverlauf keinen Sinn macht und sich jeder Einordnung entzieht. Scheinbar.

Gestern war so ein Tag.

Ungemein mild war der Morgen, nach all dem Frost. Der dicke Dompfaff im Pflaumenbaum vor dem Küchenfenster verstand dies sofort als Aufforderung, sich noch mehr aufzuplustern als sonst und pumpte übermütig noch ein Quentchen mehr Farbe in sein Brustgefieder. Bester Dinge machte ich mich auf ins Büro.

Die fünf Minuten Wartezeit am Bahnhof verbringe ich meist in stiller Kontemplation: Mein Blick schweift dabei über die Auen der Sieg, die frühen Vogelschwärme in geschäftiger Aktion – all dies im schönen Licht des dämmernden Tages. Dass ich dabei rauche ist eigentlich nicht erwähnenswert, im diesem speziellen Fall aber essentiell.

Ich stehe also da, ziehe hin und wieder an meiner Zigarette und erfreue mich trotzdem am Duft des Nebels, der vom Wasser des Flusses unterhalb der Gleise zu mir hoch zieht, als ich aus den Augenwinkeln jemanden mit energischem Schritt auf mich zu stapfen sehe. Abrupt bleibt er vor mir stehen, sein Keuchen mühsam unterdrückend, mit einem Gesichtsausdruck, der entschlossen wirken soll.

– Finden Sie das okay?
– Was finde ich okay?
– Dass Sie hier rauchen?

Ich überlege einen Moment. Worauf will er hinaus? Ich wähle die Karte: Ehrliche Antwort.

– Naja, ich rauche gern noch eine Zigarette, bevor ich in den Krieg ziehe, antworte ich freundlich.

Kurzes Schweigen. Ich kann förmlich sehen, wie der Mann mir gegenüber genüsslich all die Worte in seinem Kopf zusammenklaubt, die er sich zwei Minuten vorher mühsam erarbeitet hat.

– Dies ist ein rauchfreier Bahnhof. Machen Sie bitte die Zigarette aus.

Ich betrachte mein Gegenüber genauer: Ein großer Mann steht da, ungefähr Mitte 50. Ein freundlicher grauer Bart umspielt seine etwas verbissenen Lippen. Echt gepflegt, dieser Mann und auf Etiquette bedacht, finde ich. Obendrein läuft er kostenlos Werbung für Jack Wolfskin: Jacke, Rucksack, Schuhe – alles ziert die momentan wohl unvermeidliche Tatze. Schon hat er verloren.

– Schauen Sie sich doch bitte mal um, antworte ich mit einem Lächeln und deute auf den Bahnhof, der im Grunde nichts anderes ist als ein betonierter Ponton mit Gleisanschluss.

– Ich glaube kaum, dass sich hier irgendjemand von meinem Zigarettenrauch belästigt fühlt. Sie wohl am wenigsten, da Sie vor einer Minute noch da hinten unter dem Holzdach standen.

Dabei zeige ich auf den hinteren Bereich des Bahnsteigs, der etwa 20 Meter entfernt ist. Ich selbst stehe am anderen Ende des Pontons, unter freiem Himmel, neben einer Umspannstation, die die hiesige Bevölkerung weiträumig umschifft aufgrund vermeintlicher und böser elektromagnetischer Strahlen. Mich interessiert das nicht, ich bin immun gegen böse Schwingungen – und gewöhnlich auch gegen böse Blicke.
Demonstrativ blase ich eine dicke Wolke aus. Sie zieht an der Umspannstation vorbei. Augenscheinlich belästigt der Qualm niemanden – höchstens ein paar Maden, die in der Kiefer hinter dem Bahnsteig dösen. Ein Husten ist von ihnen jedoch nicht zu hören.

– Sie dürfen hier aber nicht rauchen. Es gibt schließlich Regeln.

Was soll man darauf antworten? Ich überlege und ziehe die Karte: Gesunder Menschenverstand. Auch übe ich mich weiterhin in Freundlichkeit.

– Ja, da mögen Sie Recht haben. Aber nicht alle Regeln machen Sinn. Sie geben meist nur einen Rahmen vor, der kreativ gefüllt werden will. Denken Sie mal an die Steuergesetze.

Kurzes Schnaufen.

– Sie halten sich wohl für etwas Besseres, zischt es zurück. Sie meinen wohl, für Sie gelten keine Regeln, was?

Okay. Dieses Gespräch wird länger dauern, wenn ich nicht aufpasse. Das will ich nicht. Ich kürze also ab, in der Hoffnung, bei diesem Mann – Lehrer oder Ex-Kettenraucher oder beides – auf Einsicht zu stoßen.

– Nein. Wenn mir eine Regel sinnvoll erscheint, dann halte ich sie auch gerne ein. Im Zug, zum Beispiel, da rauche ich nicht, weil ich niemanden mit meinem Qualm belästigen möchte. Verstehen Sie, was ich meine?

Er will nicht verstehen.

– Junger Mann (ich fühle mich natürlich sofort geschmeichelt), Sie machen einen sehr intelligenten Eindruck auf mich (jetzt fühle ich mich allerdings weniger geschmeichelt, weil ich begreife, dass er versucht, mich auf diese Tour rum zu kriegen) – wollen Sie nicht verstehen, dass es hier ums Prinzip geht?

Das war leider das falsche Stichwort. Ich hasse Prinzipienreiter. Dementsprechend ändert sich auch meine Tonlage. Dieser Mensch ist nur noch lästig.

– Okay, abschließende Antwort, weil unsere Unterhaltung zu nichts führt: Ich rauche meine Zigarette hier zu ende und werde auch morgen früh wieder eine rauchen. Zwar ist dies hier korrekt betrachtet ein rauchfreier Bahnhof und Raucher sollen einen Raucherbereich nutzen, der leider nicht kenntlich gemacht ist. Ich stehe weit genug entfernt von jeglicher Person. Niemanden – außer mir und meiner Lunge vielleicht – entsteht dadurch ein Schaden. Und nun treten Sie bitte ein Stück zurück – ein Meter sozialer Mindestabstand sollte schon drin sein, finden Sie nicht?

Vergeblich.

– Warum weichen Sie einem Diskurs aus?, säuselt der Oberlehrer. Es geht darum, dass nicht jeder machen kann, was er will. Oder finden Sie das etwa auch okay, wenn Jugendliche mit einem Baseballschläger auf unschuldige Rentner einprügeln? Diese Asozialen halten sich ja auch nicht an Regeln.

Offenbar will er nicht begreifen. Und ich werde langsam wütend.

– Mein Rauchen hat mit verbitterten Kids nichts zu tun. Und Ihre Prinzipen ändern auch nichts an dieser Tatsache. Im Gegenteil: So eine Haltung wie Ihre — ich nenne sie mal salopp ‚Blockwartmentalität‘ — war dafür verantwortlich, was ’33 passieren konnte. Und nun hören sie endlich auf, mich zu nerven. Ich diskutiere ungern mit Faschisten.

Sein Gesicht wird rot.

– Was haben Sie gesagt? Das lasse ich nicht auf mir sitzen!

Ich schnippe wortlos die Kippe in den Busch neben der summenden Trafostation. Konsterniert und wutschnaubend blickt er mich an.

– Wissen Sie, was Marderspray ist? Das bringe ich morgen mit. Dann werden wir schon sehen.

Der Zug läuft ein und ich achte darauf, dass mir dieser Mensch nicht in den gleichen Waggon folgt.

Mein Arbeitstag verläuft in gewohnter Routine: Kindischer Stress, jede Menge menschlicher Abgründe und nichtsdestotrotz zahlreiche stille Momente voller Poesie und Schönheit. Dann Feierabend und Rückweg. Mein Zug hält wieder am Ponton mit Gleisanschluss, diesmal aus umgekehrter Richtung. Inzwischen ist es dunkel. Ich steige in meinen Wagen, fahre vom Parkplatz und bemerke, dass ein junger Mann mit diversen Trolleys zaghaft seinen Daumen raushält, um mir zu signalisieren, dass er einen Lift braucht. Ich bremse neben ihm und mache von innen die Beifahrertür auf.

– Wo musst du hin?

Der junge Mann scheint nicht glauben zu können, dass ihn jemand mit nehmen möchte. Er zögert einen Moment.

– Komm, steig ein. Um diese Zeit fährt hier kein Bus mehr.

Völlig perplex wirft der Junge seine sieben Sachen in diverse Bereiche meines Kombis und steigt endlich ein. Er hat seine Sprache immer noch nicht gefunden, als ich los fahre.

– Ich muss Richtung Dattenfeld. Soll ich dich irgendwo raus lassen? Ist das überhaupt deine Richtung?

Endlich findet der Junge wieder Worte und eröffnet mir, dass er zum Internat auf dem Berg muss. Alles klar, kenne ich, kein Problem.
Im Laufe der kurzen Fahrt plaudern wir über dies und das. Dass er in die 11. Klasse geht ist nicht schwer heraus zu finden – seine Art zu Erzählen und sein Äußeres sind einfach zu verräterisch. Wir sprechen über Abi-Stress und G8, über meine Tochter, deren Namen er unbedingt wissen will und über meine überaus entspannte Zeit in der Oberstufe, damals, als ich stets erst gegen 12.00 in der Schule auflief, weil ich nur die Mindeststundenzahl belegt hatte. Wir lachen viel, während wir an der Hochwasser-geschwängerten Sieg entlang tuckern.

– Hey, Sie sind echt ein total netter Kerl. Bisher haben mich nur Frauen mitgenommen, nie Männer, sagt er dann unvermittelt.

Was soll ich darauf antworten? Ich ziehe das Schweigen vor. Irgendwann halten wir vorm Internat, ich drehe den Motor ab. Wir sitzen nebeneinander vorne im Auto und blicken auf die blinkende Hausnummer des Schulgebäudes. Schweigen. Dann:

– Wissen Sie was? Sie sind echt der netteste Mensch, der mir je begegnet ist, sagt er nach einem langen Moment.

– Quatsch, du übertreibst, antworte ich und meine es genauso, wie ich es sage.

– Nee, wirklich. Ich habe bisher noch niemanden getroffen, der so nett ist, wie Sie.

Dieser 17-jährige Junge blickt mich strahlend von der Seite an und weiß nicht, ob er jetzt aussteigen und seine Sachen nehmen soll. Ich denke einen Augenblick über seine Worte nach.

– Das ist schade, antworte ich nach einem Moment. Wäre es nicht viel schöner, wenn man viel öfter im Leben netten Menschen begegnen würde?

Der Junge denkt schweigend über meine Worte nach, grinst, steigt aus, zieht seine diversen Trolleys und Koffer aus dem Auto, schließt die Türen und winkt mir im Gehen noch mehrmals freundlich zu.

– Vielen Dank! Und grüßen Sie Ihre Tochter von mir, ruft er noch, als ich den Wagen wende und ich mich mit einer stummen Geste von ihm verabschiede.

Während der restlichen Minuten meiner Heimfahrt denke ich über diesen merkwürdigen Tag nach. Mich überkommt schließlich die leise Hoffnung, dass noch nicht alles verloren ist. Es kann zukünftig nur besser werden. Und ich leiste gerne meinen Beitrag dazu.

Axolotl Roadkill – Ganz große Pretender-Prosa

Nach Lektüre von Helene Hegemanns maßlos überhypten »Axolotl Roadkill« bleibt – neben all dem Copy-and-Paste-Buzz der letzten Tage um diesen »Roman« – bei mir nicht nur ein schaler Beigeschmack hängen aufgrund 200 unnötig gelesener Seiten und fünfzehn verschwendeter Euro, die ich lieber dem abgemagerten Junkie am Kölner Hauptbahnhof hätte in die Hand drücken sollen –  nein, zu allem Überfluss tritt auch noch ein diffuses Scheissgefühl von innen gegen mein Brustbein: Diese Wut auf mich selbst. Ich hätte es besser wissen müssen. Eigentlich.

Was war passsiert? Am 23. Januar sprang mir ohne Vorwarnung Maxim Billers Rave-Rezension von Axolotl ins Gesicht. Dort las ich folgende Sätze:

Gelöscht. Urheberrecht …

Rohstoff, Irre, Faserland – Wow, das alles in seinem Satz. Okay… Biller hatte mich sofort bei den Eiern. Knapp 10 Tage musste ich warten, bis meine Buchhandlung endlich das Buch liefern konnte („Tut mir leid, aber die Leute kaufen das gerade wie gestört“). Ich schnallte mich an und startete die Lektüre. Auf Seite 12 verzog ich zum ersten Mal genervt die Mundwinkel.

Unter der Dusche prasseln mir in Zeitlupe Tropfen entgegen, die durch den Einfluß der Oberflächenspannung bestrebt sind eine Kugelform zu erlangen.

Okay. Das Mädel ist siebzehn. Sei nicht so hart. Ich übe mich in Verständnis: Hey, es geht ums »Worte finden für: Das.« Aber spätestens ab Seite 119 geht mir dieses manirierte Mitte-Sprech (bzw. diese Pseudo-Literatur) nur noch extremst auf den Sack:

Aus dem sternenübersäten Himmel regnet es heißen Teer, der mir vergegenwärtigt, dass ich auf den untersten Level der Desillusion angekommen bin und sich deswegen keine Chance mehr auf eine heilsame Wendung im Exzess vor mir auftun wird.

Tja, Helenchen, bei meiner Rezeption glaube ich auch an keine positive Wendung mehr. Dem Ganzen wird dann noch die Krone aufgesetzt in Form einer heroisierten (und platt imaginierten) Kinder-vom-Bahnhof-Zoo-Experience, von der ich der Autorin kein einziges Wort glaube:

Ich weiß, es wird nie wieder etwas Geileres in meinem Leben geben als Heroin. Alles, was von nun an passiert, werde ich mit diesem morbiden großbürgerlichen Heroinflug vergleichen, der gerade am Start ist. Ich kapiere nicht mal mehr, dass ihr da seid, ihr seid mir alle so scheißegal, in meinem kompletten Leben wird kein einziger Moment mehr an die Perfektion heranreichen, die gerade vorherrscht.

Phantastisch. Spätestens jetzt habe ich den Papp auf. Dennoch lese ich das Buch zuende. So viel Stil muss sein. Und ich bin froh, als ich es endlich in den Schrank legen kann. Ich habe viel gelesen in meinem Leben. Auch viel Schrott. Selten aber so viel prätentiöses Geschwurbel auf einen Haufen.

Tipp an alle, die meinen, dieses Buch gelesen haben zu müssen, um dem gesellschaftlichen Diskurs folgen zu können: Kauft es nicht. Fallt nicht auf das ungemein geschickte Marketing der selbsternannten Kultur-Avantgarde rein. Ihre Inzest-Maschine zielt auf narzisstische Totgeburten – allerdings mit Spiegel-Bestseller-Status.

Als Fazit bleibt für mich zu konstatieren:

  1. Maxim Biller kann mir von nun an gestohlen bleiben. Er kann ruhig weiterhin beteuern, dass er Helene Hegemann nicht kennt: »Wie geht es ihr? Wer ist sie überhaupt? Keine Ahnung, es interessiert mich nicht. Aber wenn Sie unbedingt etwas über sie wissen wollen – sie soll 17 und Tochter eines berühmten Berliner Intellektuellen sein, und einen Film hat sie auch schon gemacht.« Ich glaube ihm kein Wort.
  2. Obendrein werde ich ihm nie verzeihen, dass er Helmut Kraussers »Fette Welt« (erschien vor Faserland) und Wolfgang Welt nicht als Markstein deutscher Literatur beachtenswert fand – das nur am Rande.
  3. Ich werde zukünftig wieder skeptischer meine Lektüre auswählen – und mehr auf Empfehlungen aus unabhängigen Quellen lauschen.
  4. Ich wünsche Helene Hegemann für die Zukunft viel Glück – dass sie ihren eigenen Weg, ihre eigene Stimme findet und sich den Klauen der Alt-Herren-Schickeria entziehen kann und ihnen als Dankeschön noch gehörig ins Gemächte tritt.
  5. Tipp: Große Literatur speisst sich immer aus eigener Erfahrung bzw. ureigenster Imagination (was manchmal aufs Gleiche hinaus läuft). Second-hand – und so tun, als ob – geht immer immens in die Hose.

Als Beispiel: Jörg Fauser.
Er hat in der Heroin-Hölle Istanbuls vegetiert und fasste (einige) seiner Erfahrungen in folgenden schlichten Sätzen zusammen:

Auf dem Nachtisch lag ein Klumpen Opium. Ringsum schrien die Huren. Auf Sex hatte ich selten Lust. Ich legte mich hin und schlug das Notizbuch auf mit dem Kapitel, an dem ich gerade schrieb. Der Rapidograph war frisch gefüllt. Ein neuer Beschiß, ein neues Bild, ein neues Kapitel. Was hatte Faulkner gesagt? »Ich würde meine Großmutter bestehlen, wenn es mir beim Schreiben helfen würde.« Ich wußte zwar nicht genau, wie er das gemeint hatte (man wußte nie genau, wie diese Leute das gemeint hatten), aber eins stand fest: Ich schrieb.

 
Jörg Fauser, Rohstoff (1984)

Poesie. Magischer Realismus. Genau das ist mit »Echtheit« gemeint, liebe Helene.
Aber, du bist ja noch jung. Ich bin da guter Hoffnung…

Es schneit

In dieser Nacht,
in diesem Augenblick der Nacht,
ich glaube, selbst wenn die Götter in Brand stecken
würden
die Welt,
bliebe von ihr stets eine Glut,
um wiederzuerblühen als Rose
im Unbekannten.

Nicht ich bin’s, der das dachte, der das sagte,
sondern diese Winternacht,
sondern ein Augenblick, vergangen bereits, dieser
Winternacht.

 
 
— Philippe Jaccottet, aus: Antworten am Wegrand (2001)

Als Soundtrack zu diesem Gedicht eignet sich perfekt der minimale Track von Pantha Du Prince, dessen wunderbares und subtil spirituelles Album »Black Noise« am 8. Februar bei Rough Trade erscheint. Ein Gros der Magie dieser Musik entsteht möglicherweise durch die Verwendung zahlreicher Field Recordings aus den Schweizer Bergen
 
 
Pantha Du Prince – Es Schneit

Es regnet

© PartieTraumatic [http://www.flickr.com/photos/x_mrswarhol/3577545700] CC-BY-NDTag der Arbeit. Welch ein Hohn! Die Straße schimmerte schwarz. Es regnete.

(So darf eine Geschichten eigentlich nicht anfangen. Der Leser vermutet sofort und völlig zurecht Primaner-Prosa ohne Pepp – und, viel wichtiger noch: ohne jegliches Poppen. Darum geht’s ja stets in diesen pubertären Pennäler-Geschichten – unerfüllte Sehnsucht und (feuchte) Träume, romantisch verrückt und letztlich bloß handbetrieben, Träume, die man so hat mit 17 – die einen irgendwann einholen, wenn man nicht aufpasst, vielleicht in der Zielgeraden zur 50, wenn sowohl das Feld als auch der Porsche bestellt sind. Lassen wir das. Hier ist der Regen tatsächlich von Bedeutung. Weil:)

»Die schweren Tropfen wollen mich verhöhnen«, dachte er, »aus einem Himmel, grau und dumpf, teilnahmslos bis komatös, klatschen sie frech in mein Gesicht«, flossen die Gedanken weiter, »und verwässern mir den Blick auf den unausweichlichen Schritt. Vergeblich! Kein Weg zurück!« Diese für ihn immens wichtige Erkenntnis beendete fürs erste seinen inneren Monolog. Er war obendrein wütend, da der Boden unter seinen Füßen nicht derart erbebte, wie er es sich erhoffte, als er die Tür hinter sich zuschlug. Dieser Tag schien verloren. Er fingerte sich eine Filterlose zwischen die Lippen, riss ein Streichholz an im Schutze der verschlissenen Wildlederjacke – einst günstig auf dem Flohmarkt erstanden, nun als Dauerstatement progressiver Konsumverweigerung getragen, lange vor Naomi Klein – entflammte die Zigarette und inhalierte tief in die Bronchien hinab, die sich sofort ängstlich bei den Händen hielten.

»Ihr habt’s nicht anders verdient, ihr Schweine!«, murmelte er, stoßgebetartig entwich der Rauch seinem Gesicht und es blieb unklar, wen er konkret damit meinte.

(Geduld. Der Regen ist wichtig. Wirklich.)

In der Ferne erschien schemenhaft eine Silhouette. Zunächst wußte er nicht, was sie darstellte, er näherte sich ihr hastigen Schrittes, sein Weg war schließlich noch weit und er war gewillt, dieser Erscheinung keine Beachtung zu schenken – selbst, als er erkennen musste, dass dort ein kleines Mädchen im Regen stand. Fröhliche Zöpfe trug sie, ihr kleines Gesicht strahlte unerhört, sie war vielleicht zehn. So viel drang immerhin zu ihm durch. Er wollte das Gör, das längst ins Bett gehörte, passieren, mit einer seiner Situation entsprechenden Nichtbeachtung – sein Tag war immerhin finster wie der Arsch des Klüttenmanns, jeder macht und trägt sein verdammtes Kreuz, ich kann mich nicht um alles kümmern, »bin ich Jesus?« – als er diese leise Stimme vernahm, kaum hörbar im Rauschen dieser trostlosen Welt.

(Nicht vergessen: Es regnet.)

»Ich wachse. Klasse, oder?«

Er blieb unvermittelt stehen, die Asche seiner Zigarette tropfte zischend in eine Pfütze, er warf entgegen seinem Vorsatz einen Blick auf das Mädchen: Wie Sterntaler stand sie da, den ausgebreiteten Rock in den Händen, ihre Zunge streckte sie weit heraus, um ja keinen der offenbar süßen Tropfen zu verpassen.

»Guck mal, wie ich größer werde.«

Tatsächlich: es war das Kind, das jene Worte sprach. Ihm hingegen fehlten diese jetzt. Völlig perplex starrte er auf das Mädchen, das auf unerklärliche Weise größer und immer größer wurde mit jedem Regentropfen, das sie auffing. Ihm blieb nur Staunen, dieser Anfang von allem. Eine Laterne spendete spärlich Licht, es brach sich hin und wieder in der Gischt des Wassers, das vom Himmel fiel. Ein Regenbogen erschien über ihrem Kopf und er rieb sich verwundert die Augen. Als er sie wieder öffnete, stand eine junge Frau vor ihm, sie war wunderschön, das Licht der Laterne umspielte glitzernd ihr Haar, sie blickte ihm direkt ins Gesicht, mit Augen, tief wie ein Ozean.

»Ich träume«, dachte er, sprach dies leise jedoch aus, ohne es zu merken. Eine warme, weiche Hand legte sich auf seine Wange. Ihre. Sein Zorn verflog wie ein mittelmäßiger Alptraum, den das Erwachen genüßlich vertilgt.

»Wer bist du?«, fragte er vorsichtig
»Finde es heraus. So heisst das Spiel.«

Er zögerte kurz. Und begriff. Die Zigarette segelte sanft durch die Rippen eines Gullis, dann nahm er vorsichtig ihre Hand in seine und die scheinbar gottverlassene Stadt atmete einmal tief durch – sichtlich zufrieden. Der Regen hatte aufgehört, frischer Duft von Lavendel hing in der Luft.

(Sagte ich nicht: Der Regen ist wichtig?)