Our day will come

Während so genannte Künstler irgendwann einmal so ein bisschen den Arsch hoch und die Zähne auseinander gekriegt und dadurch einem pseudo-engagierten Mitläufer-Mob ihre echt total unvergessliche Gruppen-Experience in der Kölner Südstadt bereitet haben (von denen einige Genossen sicher noch ihren Enkel erzählen würden, hätten sie nicht bereits ihre Fortpflanzungsfähigkeit sozial-verantwortlich wegtherapiert) – ich meine so Bundesverdienstkreuz-bestückte Künstler-Typen wie Wolfgang „Dylan“ Niedecken – einer, der einst auf dicke Hose machte („Stollwerk!! Bollwerk!!“) und erst kürzlich dem Boulevardblatt „Express“ sein jugendliches Missbrauchstrauma offenbarte (offenbar, um auch etwas zur Missbrauchsdebatte im katholischen Puff beizutragen) – gibt es gottseidank inzwischen eine neue Generation von politisch aktiven Künstlern, die wahrhaft Eier in der Hose haben und Statements abliefern, die sich wirklich gewaschen haben.

Zum Beispiel die tamilisch-britische Sängerin Mathangi Arulpragasam – besser bekannt als M.I.A. Zusammen mit dem Regisseur Romain Gavras lieferte sie vor ein paar Tagen einen als Video getarnten Kurzfilm zu ihrem neuen Song »Born free« ab, der aufgrund seiner (vordergründig) verstörenden und unerträglichen Gewalt umgehend von YouTube „zensiert“ wurde (es ist ein Altersnachweis erforderlich, um den Film auf dieser Plattform sehen zu können).

In drastischen – immer aber allegorisch zu verstehenden Bildern – wird darin etwas konsequent zuende gedacht (und gezeigt!), das möglicherweise schon bald real werden könnte, beziehungsweise in viel subtilerer Weise bereits tagtäglich passiert: Neo-faschistische, rassistische Hetzjadgen auf Andersdenkende, in diesem speziellen Fall: Rothaarige. Systemimmanente Gewalt.

Sicher war die Zensur-Keule durch einen Giganten wie Youtube ein Stück weit im Vorfeld mit einkalkuliert – so etwas erzeugt im Netz ja schnell einen irren Buzz, sprich: Aufmerksamkeit.

Zurecht. Es kommt nicht oft vor, dass Künstler (sowohl M.I.A als auch Gavras) so eindeutig wie mutig Stellung beziehen, ihre Haltung ungeschminkt offenbaren und das Vehikel Pop-Kultur benutzen, um Ideen, Visionen und auch Ängste zu formulieren. Für den einen oder anderen ist dieses Video sicher shocking oder einfach nur exzessiv übertrieben. Mag sein. Das sind aber genau die Leute, die bereits lobotomiert und gebrainwashed im spektakulärem Konsumnirvana einbetoniert sind.

Alle anderen atmen erstmal tief durch, dann tief aus: Endlich!
Endlich wagt mal jemand einen Aufbruch!
Dieser Film setzt einerseits einen neuen Maßstab im Bereich Musikvideos (der zu lange schon zur verkaufsfördernden Maßnahme degeneriert ist), andererseits betritt Kunst wieder jenen Sektor, der bisher von tumben, konsequenzlosen und vordergründig merkantil orientierten Tabubrüchen überzogen war:

Ich meine natürlich gesellschaftliche Relevanz.

»Born free« macht wütend. Extrem wütend. Es sind nicht nur die Bilder, es ist insbesondere die Musik, die in einem aggressiven Electro-Punk-Staccato die Synapsen neu verdrahtet.

Wut ist das, was gegenwärtig am meisten fehlt. Gleichgültigkeit und Lethargie, wohin man auch blickt. Doch: Wut macht auch Mut, wenn richtig kanalisiert.

Genau darum geht’s: Nicht immer nur schlucken, ducken und vermeintliche Konkurrenten abfucken, um die eigene, kleine Scholle zu retten. Nein, endlich wirklich mal den Arsch hoch kriegen und sein vertrocknetes Maul aufmachen. Möglicherweise auch ein paar Schläge in die Fresse kriegen. Das ist Teil des Spiels.

Frage: Ist das alles noch Kunst?
Ja. Und zwar in Bestform. Wahre Kunst darf das nicht nur, sie muss.
Your day will come, artist. Thank you.
 
 
M.I.A – Born Free (Official Video, uncut)

Keine Cojones. Nirgends.

Wir haben immer noch keine neue APO. Wir haben eine gemachte Mitte, die nur den Ellbogen kennt. Wo jeder versucht, irgendwie zu überleben. Und Ethos erodiert.

»Schlechtes Benehmen halten die Leute doch nur deswegen für eine Art Vorrecht, weil keiner ihnen aufs Maul haut.«

— O-Ton Kinksi 1979 in einem Stern-Interview.

Gerade jetzt, nach über 30 Jahren, wieder sehr treffend. Doch stattdessen überall: Political correctness. Haltung war gestern. Niemand macht das Maul auf. Und spricht Klartext.

»Ich bin nicht der offizielle Kirchenjesus, der unter Polizisten, Bankiers, Richtern, Henkern, Offizieren, Kirchenbossen, Politikern und ähnlichen Vertretern der Macht geduldet wird. Ich bin nicht euer Superstar.«

Dies brüllt Kinski seinem Publikum 1971 zu. Buhrufe. Widerstand regt sich. Kinski wütet weiter:

»Haltet die Schnauze!«

Ein Zuschauer kommt auf die Bühne und wirft ein, dass Jesus damals sicherlich nicht gesagt habe, „Halt deine Schnauze“. Kinski wütend:

»Nein, er hat nicht gesagt »Haltet die Schnauze«! – Er hat eine Peitsche genommen und ihm in die Fresse gehauen! Das hat er gemacht! – Du dumme Sau!«

Wie ich ihn vermisse.
 
 
Klaus Kinski und das scheiß Gesindel

Wack Wolfskins

Dieser Winter ist endlich mal wieder als ein solcher zu bezeichnen. Leider erfolgen dadurch die obligatorischen Gassi-Gänge mit Paul, dem Hund, mitunter nah an der Schmerzgrenze: Meine Winterjacke – einst günstig erstanden in belgischen Küsten-Gestaden – segnet so langsam das Zeitliche und kann dem klirrenden Frost kaum mehr Widerstand leisten.

Was liegt also näher, als endlich robuste und qualitativ hochwertige Marken-Outdoor-Kluft mit allem Zipp und Zapp zu kaufen? So mit Gore-Tex, Hy-Vent und anverwandtem Schnickschnack – so richtige Drei-Lagen-Panzer, die selbst den Kessel in Stalingrad in einen Frühlingstag verwandelt hätten?

Genau. Auf nach Köln. Da gibt’s ja diesen Globetrotter-Mega-Store. So was hat unser verschnarchter Weiler nicht zu bieten. Hier gibt’s nicht mal einen Bäcker. Nur einen Zigarettenautomaten. Leider ohne Roth Händle.

Wäre ich noch Städter, wäre ich natürlich artgerecht mit einem SUV bei diesem Outdoor-Mekka vorgefahren. Doch ich bin seit fast fünf Jahren Landei und komme mit der Bahn. Das ist C02-neutral – hat aber den großen Nachteil, dass sich diverse Karnevals-Schunkel-Kracher in meinem Gehörgang verfangen haben: Diese Siegener Jecken, die breitbeinig sämtliche Sitzplätze des Regionalzugs okkupieren, sind echt eine Klasse für sich und bieten darüberhinaus Stoff für unzählige weitere Stories. Demnächst sicher mehr.

Egal. Ich brauche eine neue Jacke. Warm soll sie sein. Regen abhalten. Und auch Pauls Gezerre standhalten. Shoppen. In Köln. Samstag nachmittags. Geht halt nicht anders: Die Woche ist geblockt durch einen Job, der zu viel Zeit frisst und zu wenig abwirft.

Ich betrete schließlich den Outdoor-Tempel. Er ist gaskammervoll. Samstag Nachmittag – was habe ich erwartet? Sofort umströmt mich der unwiderstehliche Flair urbaner Konsum-Geilheit. Wohin ich auch blicke: Lauter Menschen, die hoffen, glauben, meinen, einer immer feindlicheren Umwelt nur mit der geeigneten Marken-Bekleidung begegnen zu müssen, um so ihre Schein-Souveränität bewahren zu können.

Sieh an: Vornehmlich sind es Kleinfamilien – Papis und Mamis, erfolgreich im Beruf und endlich auch familiär gesettled dank geplantem und genau terminiertem Kaiserschnitt-Wunschkind Ende Dreißig. Man gönnt sich ja sonst nichts. Mich umschwirren Bionade-Nazis aus dem Belgischen und dem Agnes-Viertel. Kreativ involviert und immer am Puls der Zeit. Die Luft ist regelrecht geschwängert mit political correctness. Wir kaufen ja deutsch. Traditionsware aus hiesiger Produktion („Hey, Jack Wolfskin sitzt im Taunus!“). Dass dieser Rotz in der sogenannten Volksrepublik China gefertigt wird, genau wie das Zeug beim Aldi, tut ja nichts zur Sache. Was zählt, ist die und das richtige Etiquette. Wir sind aufgeklärt. Kaufen Bio. Erziehen unsere Bälger bilingual. Der Wettbewerb, weißt du? Chancen, Zukunft, Elite. Der ganze neoliberale Scheiß.

Neben all dem ach so aufgeklärten Bewußtsein ist die Globetrotter-Luft aber auch von etwas anderem geschwängert: Gediegenem Geschmacksstalinismus. Und Angst. Einer Furcht vor der eigenen Meinung, einer Haltung, welcher auch immer. Jener kalten Angst vor Fehlern. In anderem Zusammenhang nannte man dies: Gleichschaltung. Ikea mit seinem penetranten Geduze hat ja bereits bei der Wohnraumgestaltung gewonnen.

Sie kaufen maßlos überteuerte Outdoor-Kleidung, rufen laut „Hach! Ist die Luft hier gut!“, wenn sie mit ihrem Allrad-Audi die unschuldige Sieg penetrieren, fürchten im selben Moment, dass ihre betüttelten Blagen mit ihren teuren Klamotten in den unhygienischen Matsch stürzen und freuen sich insgeheim bereits auf den fair gehandelten Kräutertee, der sie erwartet, wenn sie frischluftbetankt in ihre ererbte und klimatisierte Eigentumswohnung zurückkehren.

Nach fünf Minuten verlasse ich diesen Outdoor-Tempel. Die Jacke für den Winter werde ich beim örtlichen Raiffeisen-Markt kaufen. Die haben äußert robuste Ware am Start. Die hiesigen Bauern decken sich dort kleidungstechnisch ein. Wenn sie auf ihrem Trecker sitzen, sehen sie nicht so aus, als würden sie frieren – ihre Kinder klettern obendrein in Obstbäume und benötigen dazu keine Grundkenntnisse in Business-Chinesisch. Und statt korrektem Kräutertee ziehen sie sich nach getaner Feldarbeit ein gepflegtes Hachenburger Pils rein. Das ist ein Bier aus garantiert heimischer Produktion, ehrlich bis ins Mark und bar jedes Chichis. Tannenzäpfle gibt’s hier nicht. Gott sei Dank.