24.04.2023

Human (dignity)
Midwife & Vyva Melinkolya – Miss America

»Was bin ich nur für ein verfickter Voyeur«, dachte ich, als ich auf den Auslöser der Sony Alpha drückte, ich bin ein Seelenräuber, jemand, der das vermeintliche Leid anderer nutzt, um mich – vermeintlich künstlerisch – zu produzieren, meinem Ego zu schmeicheln. Ein empathiefreier Technokrat.

Ich beobachtete diese Frau, die man vor einhundertfünfzig Jahren als ‚Monster‘ (Neudeutsch: Freak/Weirdo) bezeichnet und in einem Kabinett gegen Entgelt ausgestellt hätte, dann verstohlen – und bewusst beiläufig – aus meinen Augenwinkeln, als sie nach ihrem sun-nap erwachte und ihre Weiterfahrt aufgleiste. Ich war überrascht, ihr Gesicht zu sehen: Es war offen, liebenswürdig, so schön und warmherzig. Keine Spur von Leid, Ohnmacht, Scham oder Zorn. Was ich sah: Akzeptanz und Würde. Sonst nichts. Ihre körperliche Deformation war schlagartig egal.

Ich sah: Einen Menschen.

Es dauerte gefühlte Ewigkeiten, bis sie sich in den Rollstuhl bugsiert hatte. Anschnallen. Bedienelemente vom E-Rolli in Position bringen. Ein triumphierendes Lächeln. Dann brauste sie ab Richtung Palmengartenwehr.

Ich sah ihr lange nach. Voll tiefster Bewunderung und Demut.
Es geht um den Wert, dem man sich selbst beimisst.
Nichts anderes zählt.

Dafür Dank.

10.01.2023

Momente (XI)

 

1989. Die Mauer brach, ich wurde flügge, verwarf familiäre Erwartungen und ging zum Zirkus. Mein Vater war damals so alt, wie ich jetzt, er verstand meine Entscheidung nicht, doch vom Herzen sagte er: ja. Beim Blick in den Spiegel entdecke ich nun Züge von ihm, in meinem Antlitz. Und nun verstehe ich.

Martin Herzberg – Roots