Sehnsucht, nach dem »Davor«

Sie steht an der Kasse der Buchhandlung und wartet, dass sie an die Reihe kommt. Genervt ist sie: Sie will endlich ihr Buch bezahlen und nach Hause. Einkaufen ist Stress für sie. Nahkampf – alle anderen sind ihre Feinde. Sie stehen ihr im Weg, rempeln sie an, versperren den Blick auf die Auslage. Stören. Stinken. Ihre Nase nimmt plötzlich einen nicht einzuordnenden Geruch wahr. Der Geruch kommt von hinten. Sie weiß nicht, ob es unangenehm oder vielleicht sogar doch angenehm riecht. Sie denkt kurz nach, kramt in ihrer olfaktorischen Erinnerungskiste. Und kommt schließlich drauf: Alter Urin.

Sie wendet ihren Blick vorsichtig nach hinten und entdeckt einen Penner, der dicht hinter ihr steht und in dem Moment, wo sich ihre Blicke verschämt treffen, damit aufhört, mit halbgeschlossenen Augen den Duft ihrer Haare in sich aufzusaugen.

Er schaut zu Boden und dreht sich um. Geht schnurstarks auf eine Regalreihe zu, in denen Bildbände von fremden, fernen und heißen Ländern angeboten werden. Sie studiert seine äußere Erscheinung: Er hat schütteres, schulterlanges Haar, einen halbwegs gepflegten Vollbart. Seine grüne Cordhose ist vom Schmutz gezeichnet, sein Steppmantel hat blasse Flecken am Saum. Würde sie nur flüchtig hinschauen, sie würde in ihren Augenwinkeln bloß einen leicht heruntergekommenen Mitvierziger vor einem Buchregal wahrnehmen. Leicht heruntergekommen, okay, aber einer von ihnen. Doch sie sieht seine Hände. Seine Finger, die sich verkrampft zu einer Faust ballen, die kleinen Finger eigentümlich abgespreizt. Seine verschmutzen, eingerissen Fingernägel, unter denen sich der Dreck der Schildergasse wie ein Mal eingebrannt hat. Sieht, daß er zittert. Sieht seinen Blick auf die prächtigen Buchcover: Provence, Kenia, Kanada. Seine glasigen Augen, die über die Bücher huschen. So, als wolle er wirklich eines dieser teuren Bücher erstehen wollen.
 Sie beginnt zu phantasieren. Imaginiert sein Leben. Vielleicht war er damals in einem dieser fernen Länder? Damals, bevor ihm das Schicksal einen Strich durch die Rechnung gemacht hatte. Bevor er seine Frau, seinen Job und seine Wohnung verlor? Hat er Sehnsucht? Nach dem damals, dem davor? 
Sie empfindet auf einmal, ihr unerklärlich, so etwas wie Mitleid. Möchte diese arme Kreatur in ihre Arme schließen und flüstern: »Alles wird gut.«
Doch die nölende Stimme der Kassiererin reisst sie aus ihren Gedanken und fordert sie an die Reihe. Sie bezahlt stumm und geht nach Hause.

Und auch der Penner wird nach fünf Minuten die Buchhandlung verlassen, diese trockene und warme Oase, an einem Tag, an dem der Wind gewissenlos durch die Strassen jagt und die Kälte unaufhaltsam durch seine vom Schmutz gezeichnete Cordhose dringt.
Genauso unbemerkt, wie er gekommen war.

Fate drives you insane

1988. Ein Freitag im Winter. Auf dem Weg ins Programmkino. Damals gab es noch „Lange-Film-Nächte“. Gezeigt wurde ein Double-Feature: »Betty Blue« von Beneix und »9 1/2 Wochen«. Sie saß neben mir im rostigen Renault 14 — meinem ersten Auto; in zwölf Monaten würde ich die 1200 Mark abbezahlt haben, die ich mir für diese Kiste zusammengeliehen hatte. Es war schweinekalt in dieser Nacht, doch sie trug nur einen kurzen schwarzen Rock und darunter eine hauchdünne schwarze Strumpfhose. Das war cool. Damals.
Ich liebte sie. Das tat ich schon vorher. Zwischendurch allerdings — aus Gründen, die ich hier weder nennen noch beschreiben möchte — eine zeitlang nicht mehr.
Wir hielten an einer Nachttanke. Sie wollte ein Eis. Warum nicht? Nach zwei Minuten stieg sie wieder ein und lutschte hingebungsvoll am Cornetto Erdbeer. Das war so süß.
Während der Fahrt ins Kino schwiegen wir. Die einzigen Geräusche im Renault waren der rumpelnde Motor, das Schmatzen von Zunge auf Eis und die Musik aus dem Autoradio.

— Schöne Musik haste da. Was is’n das?
— Peter Murphy.
— Aha.

Ich wollte sie auf der Stelle küssen. Dafür musste ich allerdings noch bis zum Morgengrauen warten. Ich trug sie Huckepack zum Auto. Sie lachte laut. Und mir wurde klar, dass wirklich alles seine Zeit hat.
 
 
Peter Murphy – Time Has Got Nothing To Do With It