Missverständnis
Für Hannah
Ich habe immer Schwierigkeiten mit dem Begriff der »Liebe« gehabt. Sie existiert in so vielen verschiedenen Formen wie es Vorstellungen vom Wesen Gottes gibt. Ich glaube an keinen Gott, der vorstellbar wäre. Man sollte das Wort Liebe vielleicht für jenen seltenen Fall der Seelenverschmelzung reservieren, die erst nach einigen Jahren, oft verbunden mit nachlassendem Trieb, einsetzt und in eine psychische Symbiose mündet, bei der die Liebenden einander immer ähnlicher werden, ohne sich selbst aufzugeben. Doch für das weite Terrain zwischen der sogenannten »hohen« Liebe und den chemischen Prozessen schneller Verliebtheit gibt es zu wenig Vokabular. Benutze ich in Bezug auf Johanna das Wort Liebe, benutze ich es bewußt für etwas, das über bloße Begierde und Faszination hinausging. Etwas, das viel mehr war als die Zirkusnummer verwirrter Hormone. Etwas, das stark dem Gefühl glich, nach langer Irrfahrt festes, vertrautes Land zu betreten. Ich bildete mir ein, daß wir zusammen eine Zukunft haben und glücklich werden konnten. Weshalb ausgerechnet mit Johanna? Die Frage klingt im Nachhinein sehr spöttisch. Wahrscheinlich ist der Spott berechtigt. Alles, was ich sagen kann, ist: Sie hat mich zu einem anderen Menschen gemacht.
Dies allein, selbst wenn es nur von kurzer Dauer war, erhob sie in meinen Augen zur magischen Person, von der ich mir eine Katharsis für mein längst aus allen Bahnen geratenes Leben versprach. Mit einigem Abstand lässt sich sagen: Wir haben uns missverstanden. In jenem Missverständnis aber spiegelt sich die ganze Welt.
– Helmut Krausser: Schmerznovelle (2001)