14.11.2019

Emil und die Korrektive (Oder: Christmas Carol, different version)

Dieses Leben ist ein verkehrtes und schreckliches, nicht zum Aushalten.
– Sören Kierkegaard: Entweder-Oder (1843)


Ich bin 13 Jahre alt und heiße Ngunoue. Ich lebe in Kongo-Kinshasa. In einem Dorf. In der Nähe von Likasi, das ist die nächste größere Stadt. Hier ist gerade Regenzeit. Bei Emil schneit es. Heute ist ein Brief von ihm gekommen. Ein Foto ist auch dabei. Darauf ist ein Baum zu sehen, der hier nicht wächst. Er hat kleine grüne Nadeln statt Blätter. Es ist weißes Pulver auf den Ästen. »Das ist Schnee«, schreibt Emil in dem Brief. Meine Lehrerin liest ihn mir vor. Ich selbst kann nicht lesen. Ich muss es noch lernen. Sie sagt, dass Emil und seine Familie in einem Deutschland gerade Weihnachten feiern. Ich weiß nicht, ob sie dabei auch tanzen und lachen wie wir hier. Ich weiß nicht, was Schnee ist und wie er sich anfühlt. Wo meine Eltern sind, weiß ich auch nicht. Wie Hunger sich anfühlt, das weiß ich. Und Angst. Ich war Soldat. Jetzt bin ich im Heim mit vielen anderen Kindern. Zweimal am Tag gibt es Essen. Wir haben einen Fernseher im Gemeinschaftsraum. Emil ist mein Pate, sagt die Lehrerin, und erklärt mir, dass dies so etwas ist, wie ein lieber Onkel. Emil lebt in einer großen Stadt, die glänzende Straßen und schöne Häuser hat. Ohne Wellblechhütten. Ohne Einschusslöcher. Emil schickt dem Heim seit Anfang des Jahres Geld. Damit ich lernen kann. Seine Schulausbildung ist nächsten Sommer vorbei. Dann will er weiter lernen. In einer anderen Schule. »Hochschule«, sagt die Lehrerin. Und noch zwei weitere Worte, die ich nicht verstehe: »international studies«. Das hat etwas mit Gerechtigkeit zu tun. Das ist ihm wichtig, sagt die Lehrerin. Er unterstützt nicht nur mich. Er ist auch Teil einer neuen Bewegung, die möchte, dass die Welt besser wird. Sie arbeiten daran, dass bald niemand mehr in Not lebt. Sie wollen all die mächtigen und weißen Männer zwingen, etwas zu tun. Etwas anderes zu tun als sonst. Dafür geht Emil auf die Straße. Er trägt dabei Schilder mit Forderungen, die ganz schnell umgesetzt werden müssen. Damit wir nicht aussterben. Damit die große Katastrophe nicht kommt. Dafür ist Emil auch bereit, ins Gefängnis zu gehen. Die anderen aus seiner Bewegung geben ihm Halt, Mut und Liebe, um dies notfalls auszuhalten. Wir sind alle miteinander verbunden, liest die Lehrerin, alle Menschen dieser Welt. Ich kenne kein anderes Land als dieses hier. Was ich von der Welt weiß, weiß ich aus dem Fernsehen. Da sieht man große leuchtende Schiffe. Auf denen ist vorne manchmal ein lachendes Gesicht gemalt. Die Menschen auf diesen Schiffen lachen auch. Sie sehen zufrieden aus. Sie tanzen und küssen. Mich hat nur meine Großmutter geküsst. Sonst wurde ich geschlagen. Auch vieles andere, was ich auf dem Bildschirm sehe, ist mir fremd. Wie sitzt es sich auf einem riesigen, weichen Sofa? Wie fühlt es sich an, mit einem großen Auto und ganz schnell unter bunten Lampen durch die Nacht zu fahren? Mit vielen Freunden, die gesund aussehen und strahlend weiße Zähne haben, an einem langen Tisch mit Essen bedient zu werden? Ich weiß es nicht. Es sieht schön aus. Wie ein Traum. Wie Bilder aus den Geschichten, die mir meine Großmutter zum Einschlafen erzählt hat. Bevor man ihr mit einem Messer durch den Hals geschnitten, mich dann von ihr weggerissen hat. Mit meinem Hemd voller Blut. Und der Angst zu weinen. Emil schreibt, er kämpft dafür, dass es mir und allen anderen, bald besser geht. Deshalb isst er kein Fleisch mehr. Und kauft auch nur noch das, was er wirklich braucht. Wenn alle Menschen es so machen würden, wie er, würde sich einiges ändern. Die ganze Welt würde sich ändern, liest die Lehrerin. Das ganze System. Ich kenne dieses Wort nicht. Ich habe nur eine Vermutung, was es bedeutet. Es hört sich wichtig an. Die Lehrerin betont es auch besonders. Sie ist mit dem Vorlesen fertig und sagt, dass er mir Frieden, Liebe und ein frohes neues Jahr wünscht.

Sie gibt mir den Brief und das Foto. Dann geht sie ins Haus. Mit dem Brief kann ich nichts anfangen. Da sind Zeichen, die mir nichts sagen. Das Bild mit dem komischen Baum schaue ich aber lange an. Es ist schön. Es sieht so friedlich aus. Emil kämpft in diesem friedlichen Deutschland, schreibt er. Auch ich musste kämpfen. Ich habe Menschen erschossen. Damit ich nicht selbst erschossen werde. Ich mag Fleisch und hätte gerne mehr davon. Ein paar von diesen schönen Sachen würde ich auch gerne haben. Diese Dinge aus dem Fernsehen. Emil will das alles nicht. Er will, dass es mir besser geht. Dass es allen besser geht. Ich verstehe ihn nicht. Ich weiß nicht mal, wie er aussieht. Er hat sicher auch schöne weiße Zähne, mein Pate. Ein weiches Sofa. Und viele Freunde, mit denen er durch die bunte Nacht fährt. Zu einem langen Tisch, auf dem viel Essen steht.

Er wünscht mir ein frohes neues Jahr.
Ich wünsche mir, ich wäre dort, wo Emil ist.

[Beitrag für: Standort West 12/2019, Schwerpunkt: »Liebe, Frust & Rebellion«]

19.08.2019

Wir werden ein gelungenes Leben gelebt haben

Nenne mich Ismael. Oder Helga. Oder Satoru. Namen haben keine Bedeutung mehr. Jetzt ist die Zeit. Es ist der 28. August 2033. Vor genau 70 Jahren hielt Dr. Martin Luther King beim Marsch auf Washington für Arbeit und Freiheit vor mehr als 250.000 Menschen am Lincoln Memorial in Washington, D.C. (ehem. USA) eine Rede, die diesen Satz enthielt: »Now is the time.« Die rhetorisch brillante Schlusssequenz beginnt mit den Worten »I have a dream« und endet mit »Free at last! Free at last! Thank God Almighty, we are free at last!« Gott ist lange schon tot und Religion obsolet – dennoch: »free«, also freie Menschen, das sind wir nun. Endlich. Und zuhause angekommen.

Es war kein Kampf. Es war eher spielerische Notwendigkeit. Zehn Jahre ist es gerade mal her, dass es kippte. Das ganze System. Einfach so. Ohne Lärm, Staub, Katastrophen oder Krieg. Der gesunde Menschenverstand war es, der letztlich obsiegte. Die überhitzte Megamaschine wachstumsfixierter Kapitalismus verreckte damals mit einem massiven Kolbenfresser. Rien ne va plus sozusagen, am Spieltisch der globalen Finanzmafia. Dieser Moment wurde von vielen lange schon antizipiert, spätestens seit Club Of Rome. Er würde kommen, man wusste nur nicht, wann genau. Schreckensszenarien wurden im Vorfeld mit Blut bzw. .308-Vollmantelgeschossen an die Wand gemalt. Man erwartete Zustände, die bestenfalls an ein schlechtes Remake von Mad Max erinnerten. Dem war nicht so. Lautlos fiel die Tür ins Schloss. Dann ging ein leiser und erstaunter Jubel von einem Ende der Welt zum anderen. »Ich habe fertig«, schluchzte der implodierte Neoliberalismus ein letztes Mal. Und wir machten uns freudig an die Arbeit.

»Wir sind es, die wir die Städte und Paläste – hier in Spanien und in Amerika und überall – gebaut haben. Wir Menschen können andere Städte und Paläste an ihrer Stelle aufrichten und sogar bessere. Wir haben nicht die geringste Angst vor Trümmern. Wir werden die Erben dieser Erde sein. Hier, in unserem Herzen, tragen wir eine neue Welt. Jetzt, in diesem Augenblick, wächst diese Welt.«

Dieses bonmot von Buenaventura Durruti, Anarchistenführer im Spanischen Bürgerkrieg (der in den 30ern des 20. Jahrhunderts wütete und sowohl von der Kommunistischen Internationale als auch den Faschisten niedergeschlagen wurde), erlebte eine Renaissance und war das Credo unseres Aufbruchs – jenem kompletten Neustart, den die Geschichtsschreibung inzwischen als Resurrection bezeichnet.

Ideen, die vor knapp einhundert Jahren während des kurzen Sommers der Spanischen Anarchie erprobt wurden, erreichten nun ihre formvollendete Meisterschaft. Menschen, die jahrzehntelang durch einen Konsumkapitalismus perforiert wurden (TINA, »homo oeconomicus«, dieses Bullshit-Bingo, endgültig demaskiert als Pseudo-Religion der Ein-Prozent) fassten sich ans Herz und erinnerten sich an Solidarität, Subsistenz, Subsidiarität und Empathie – jene basalen, aber nahezu vergessenen Grundbausteine des sozialen Miteinanders. Das Gegeneinander verpuffte, in Kooperation lag schon immer – und liegt auch weiterhin – die Zukunft.

Nationalitäten und damit einhergehender Chauvinismus machten fortan keinen Sinn mehr. Die Menschen organisierten sich in einer Form, die wir nun RSK (Räterepublik syndikalistischer Kooperativen) nennen. Niemand wurde enteignet. Aktienbesitzer, Fabrikanten, Oligarchen und selbst die verbissensten Monopolkapitalisten erkannten, dass diese Form gesellschaftlicher Organisation sowohl nachhaltiger, menschlicher als auch effektiver war und schlossen sich freiwillig an. Es floss kein Blut. Auch Tränen nicht. Stattdessen flossen Wein und Bier und Wodka in rauen Mengen, die Syndikate an der Elbe, in Franken und am stillen Don erzeugten. Kostenlos, wohlgemerkt.

Cybersyn, ein futuristisches Wirtschaftsprojekt, das Salvador Allende Anfang der 1970er Jahre in Chile auf der Agenda hatte (und das mangels technischer Infrastruktur und massiver konterrevolutionärer Energien seitens der USA scheiterte) ist nun Realität. Statt konkurrierender Staaten samt ihren jeweiligen Unternehmen sind weltweit autonome und überschaubare Einheiten (von ca. 80-120 Menschen) in freiwilliger Kooperation verbunden. Produziert wird, was wirklich gebraucht wird – und nicht hauptsächlich verbraucht werden soll (im Sinne der bisherigen kapitalistischen Mehrwerttheorie, die bekanntlich dazu diente, vornehmlich den Gewinn einer kleinen Gesellschaftsschicht zu vermehren, siehe oben).

Was weder in Zeiten der Spanischen Revolution, noch bei Allende möglich war, ist technisch realisiert: Sämtliche Produktionseinheiten kommunizieren global in Echtzeit miteinander. Internet und Big Data machen es möglich. Die jeweiligen und realen Bedarfe an Produkten und Dienstleistungen werden in Sekundenbruchteilen ermittelt und unmittelbar darauf reagiert. Es ist genug für alle da. Das war es schon vorher, aber es wird jetzt besser und gerechter verteilt. Geld und Gewinn spielen hierbei keine Rolle mehr. Eine kybernetische Netzwerkwirtschaft äußerst humaner Art hat sich etabliert.

Smarte Maschinen und intelligente Algorithmen erledigen nun ein Großteil der Arbeit. Befreit von den Zwängen der bisherigen Wachstums- und Verwertungslogik haben wir die Muße wiederentdeckt – somit uns selbst. Und – viel wichtiger – unseren eigentlichen Wert. Vieles, das wir bisher annahmen, zu wissen, entpuppte sich als willkürliche Mixtur aus Axiomen und Glaubenssätzen. Rassen, Klassen, Geschlecht – all diese überkommenen Konzepte wurden sinnlos. Wir sind Menschen. Wir haben unsere Augen geöffnet. Für uns. Und für alle anderen.

»Die wahre Vollkommenheit des Menschen liegt nicht in dem, was er hat, sondern in dem, was er ist. […] Nur in freiwilligen Vereinigungen ist der Mensch schön. […] Der Staat hat das Nützliche zu tun. Das Individuum hat das Schöne zu tun.«
Oscar Wilde: Die Seele des Menschen im Sozialismus, Februar 1891

Wir erinnerten uns schlicht daran, was sie uns vergessen machten. Statt weiterhin Geschichten und Geschichte erzählt zu bekommen, schreiben wir fortan unsere eigene. Das Überraschendste daran: Es ist alles schon da. Alles.

[Beitrag für: Standort West 09/2019, Schwerpunkt: »Zukunft«]