Haiku (XXXV)
Am Steg gesessen.
Schweigend, rauchend, distanziert.
Kein Frosch war’s, das Blatt.
Kate Tempest – People’s Faces
04.10.2019
Stormy clouds (the heavens break, I am walking tall)
26.08.2019
We are obliged (to be free) #stand freedom
19.08.2019
Wir werden ein gelungenes Leben gelebt haben
Nenne mich Ismael. Oder Helga. Oder Satoru. Namen haben keine Bedeutung mehr. Jetzt ist die Zeit. Es ist der 28. August 2033. Vor genau 70 Jahren hielt Dr. Martin Luther King beim Marsch auf Washington für Arbeit und Freiheit vor mehr als 250.000 Menschen am Lincoln Memorial in Washington, D.C. (ehem. USA) eine Rede, die diesen Satz enthielt: »Now is the time.« Die rhetorisch brillante Schlusssequenz beginnt mit den Worten »I have a dream« und endet mit »Free at last! Free at last! Thank God Almighty, we are free at last!« Gott ist lange schon tot und Religion obsolet – dennoch: »free«, also freie Menschen, das sind wir nun. Endlich. Und zuhause angekommen.
Es war kein Kampf. Es war eher spielerische Notwendigkeit. Zehn Jahre ist es gerade mal her, dass es kippte. Das ganze System. Einfach so. Ohne Lärm, Staub, Katastrophen oder Krieg. Der gesunde Menschenverstand war es, der letztlich obsiegte. Die überhitzte Megamaschine wachstumsfixierter Kapitalismus verreckte damals mit einem massiven Kolbenfresser. Rien ne va plus sozusagen, am Spieltisch der globalen Finanzmafia. Dieser Moment wurde von vielen lange schon antizipiert, spätestens seit Club Of Rome. Er würde kommen, man wusste nur nicht, wann genau. Schreckensszenarien wurden im Vorfeld mit Blut bzw. .308-Vollmantelgeschossen an die Wand gemalt. Man erwartete Zustände, die bestenfalls an ein schlechtes Remake von Mad Max erinnerten. Dem war nicht so. Lautlos fiel die Tür ins Schloss. Dann ging ein leiser und erstaunter Jubel von einem Ende der Welt zum anderen. »Ich habe fertig«, schluchzte der implodierte Neoliberalismus ein letztes Mal. Und wir machten uns freudig an die Arbeit.
»Wir sind es, die wir die Städte und Paläste – hier in Spanien und in Amerika und überall – gebaut haben. Wir Menschen können andere Städte und Paläste an ihrer Stelle aufrichten und sogar bessere. Wir haben nicht die geringste Angst vor Trümmern. Wir werden die Erben dieser Erde sein. Hier, in unserem Herzen, tragen wir eine neue Welt. Jetzt, in diesem Augenblick, wächst diese Welt.«
Dieses bonmot von Buenaventura Durruti, Anarchistenführer im Spanischen Bürgerkrieg (der in den 30ern des 20. Jahrhunderts wütete und sowohl von der Kommunistischen Internationale als auch den Faschisten niedergeschlagen wurde), erlebte eine Renaissance und war das Credo unseres Aufbruchs – jenem kompletten Neustart, den die Geschichtsschreibung inzwischen als Resurrection bezeichnet.
Ideen, die vor knapp einhundert Jahren während des kurzen Sommers der Spanischen Anarchie erprobt wurden, erreichten nun ihre formvollendete Meisterschaft. Menschen, die jahrzehntelang durch einen Konsumkapitalismus perforiert wurden (TINA, »homo oeconomicus«, dieses Bullshit-Bingo, endgültig demaskiert als Pseudo-Religion der Ein-Prozent) fassten sich ans Herz und erinnerten sich an Solidarität, Subsistenz, Subsidiarität und Empathie – jene basalen, aber nahezu vergessenen Grundbausteine des sozialen Miteinanders. Das Gegeneinander verpuffte, in Kooperation lag schon immer – und liegt auch weiterhin – die Zukunft.
Nationalitäten und damit einhergehender Chauvinismus machten fortan keinen Sinn mehr. Die Menschen organisierten sich in einer Form, die wir nun RSK (Räterepublik syndikalistischer Kooperativen) nennen. Niemand wurde enteignet. Aktienbesitzer, Fabrikanten, Oligarchen und selbst die verbissensten Monopolkapitalisten erkannten, dass diese Form gesellschaftlicher Organisation sowohl nachhaltiger, menschlicher als auch effektiver war und schlossen sich freiwillig an. Es floss kein Blut. Auch Tränen nicht. Stattdessen flossen Wein und Bier und Wodka in rauen Mengen, die Syndikate an der Elbe, in Franken und am stillen Don erzeugten. Kostenlos, wohlgemerkt.
Cybersyn, ein futuristisches Wirtschaftsprojekt, das Salvador Allende Anfang der 1970er Jahre in Chile auf der Agenda hatte (und das mangels technischer Infrastruktur und massiver konterrevolutionärer Energien seitens der USA scheiterte) ist nun Realität. Statt konkurrierender Staaten samt ihren jeweiligen Unternehmen sind weltweit autonome und überschaubare Einheiten (von ca. 80-120 Menschen) in freiwilliger Kooperation verbunden. Produziert wird, was wirklich gebraucht wird – und nicht hauptsächlich verbraucht werden soll (im Sinne der bisherigen kapitalistischen Mehrwerttheorie, die bekanntlich dazu diente, vornehmlich den Gewinn einer kleinen Gesellschaftsschicht zu vermehren, siehe oben).
Was weder in Zeiten der Spanischen Revolution, noch bei Allende möglich war, ist technisch realisiert: Sämtliche Produktionseinheiten kommunizieren global in Echtzeit miteinander. Internet und Big Data machen es möglich. Die jeweiligen und realen Bedarfe an Produkten und Dienstleistungen werden in Sekundenbruchteilen ermittelt und unmittelbar darauf reagiert. Es ist genug für alle da. Das war es schon vorher, aber es wird jetzt besser und gerechter verteilt. Geld und Gewinn spielen hierbei keine Rolle mehr. Eine kybernetische Netzwerkwirtschaft äußerst humaner Art hat sich etabliert.
Smarte Maschinen und intelligente Algorithmen erledigen nun ein Großteil der Arbeit. Befreit von den Zwängen der bisherigen Wachstums- und Verwertungslogik haben wir die Muße wiederentdeckt – somit uns selbst. Und – viel wichtiger – unseren eigentlichen Wert. Vieles, das wir bisher annahmen, zu wissen, entpuppte sich als willkürliche Mixtur aus Axiomen und Glaubenssätzen. Rassen, Klassen, Geschlecht – all diese überkommenen Konzepte wurden sinnlos. Wir sind Menschen. Wir haben unsere Augen geöffnet. Für uns. Und für alle anderen.
»Die wahre Vollkommenheit des Menschen liegt nicht in dem, was er hat, sondern in dem, was er ist. […] Nur in freiwilligen Vereinigungen ist der Mensch schön. […] Der Staat hat das Nützliche zu tun. Das Individuum hat das Schöne zu tun.«
— Oscar Wilde: Die Seele des Menschen im Sozialismus, Februar 1891
Wir erinnerten uns schlicht daran, was sie uns vergessen machten. Statt weiterhin Geschichten und Geschichte erzählt zu bekommen, schreiben wir fortan unsere eigene. Das Überraschendste daran: Es ist alles schon da. Alles.
[Beitrag für: Standort West 09/2019, Schwerpunkt: »Zukunft«]
27.07.2019
Life is people (and the sea, definitely).
05.07.2019
Five years later (and clouds are still the same)
23.06.2019
Haiku (XXXIV)
Du weißt nicht weiter.
Frag: »Was würde Frida tun?«
Folge ihrem Rat!
Kate Tempest – Hold Your Own
23.06.2019
It’s the scratches (that make you adorable) #willjoscha the bear
11.06.2019
Sweet summer rain (safe and sound)
17.05.2019
Kontrolle, Zelte und der ganze Rest
Er hatte das Herz am rechten Fleck, grundsätzlich. Braungebrannt, dreitagebärtig, mit leuchtenden Augen. Leider war er auch uniformiert und mit einem klaren Auftrag am Start. Dafür hasste ich ihn in diesem Moment.
»Das können Sie nicht mit in die Kabine nehmen«, sagte er und ließ dabei den beigen Stoffsack zwischen seinen Fingern und vor meinem Gesicht hin und her baumeln.
»Wie jetzt? Ich hab’s doch auch auf dem Hinflug in meiner Hosentasche gehabt!«
Das entsprach der Wahrheit. Half aber nichts.
»Tja, dann haben die Kollegen in Deutschland nicht richtig kontrolliert. Tut mir leid.«
Aber er hatte eine Idee. Er fand sie offenbar genial, sein Lächeln reichte von Ohr zu Ohr.
»Sie können es im Koffer verstauen. Das ginge. Sie haben noch nicht eingecheckt?«
Doch, hatte ich. Und hatte somit nun ein Problem. Ein großes. Jedoch: Ich kann, wenn ich möchte, sehr charmant sein. Das hat oft Wunder bewirkt. Angesichts der Sachlage konnte nur noch so etwas helfen.
»Nee, der ist schon weg«, antwortete ich traurig, suchte und fand seinen Blick.
»Monsieur, dieses Ding ist mir wichtig. Sehr wichtig. Ich hänge dran. Es hat eine besondere Bedeutung für mich. Ein Freund hat es mir vor Jahren geschenkt. Ich kann es nicht zurücklassen. Sie sind ein guter Mensch, das sehe ich. Machen Sie eine Ausnahme – und nicht zwei weitere Menschen unglücklich. Bitte.«
Monsieur schloß die Hand um den Stoffsack, dann kurz seine Augen, ein Kopfschütteln – voll mit echtem Bedauern. Immerhin. Mein Flug ging in einer halben Stunde.
Köln ZOB. Sommer. Fünf Jahre vorher. Ich hole ihn ab, er kommt aus Millau, Frankreich, Zentralmassiv, hat ätzende 22 Stunden Busfahrt hinter sich. Er ist Künstler. Und pleite. Mal wieder. In den letzten Jahren habe ich ihn oftmals mit Geld unterstützt. Nun braucht er für ein paar Wochen einen Ort, um sich innerlich zu sortieren. Diesen gebe ich ihm. Gerne. Er ist mein Freund.
»Halt mal die Hand auf«, sagt er grinsend, nachdem wir uns aus der Umarmung gelöst haben. Ich stutze und strecke unsicher meine Rechte hin. Er kramt in seiner Jacke, holt etwas heraus und überreicht es mir. Es ist ein kleiner Leinenbeutel, nicht schwer, bedruckt mit einer Biene. Im Beutel befindet sich ein Messer, stelle ich fest, als ich die Schnüre oben löse. Genauer: ein Laguiole. Handarbeit aus der Auvergne. Teuer. Ich habe keine Ahnung, wo er das Geld dafür her hat. Vielleicht hat er sich die annähernd 200€ vom Mund abgespart. Er sieht noch magerer aus als bei unserem letzten Treffen.
»Das ist zu viel. Das kann ich nicht annehmen!«
Er schweigt. Ich versuche, ihm das Messer zurück in seine Jacke zu stecken. Keine Chance.
»Nimm es. Bitte.«, sagt er und lässt keinen Zweifel daran, dass er es ernst meint. Ich lasse meinen Widerstand fahren. Und umarme ihn erneut. Noch fester.
Ich hatte ihn angerufen. Mitten in der Nacht. Mir war gerade mein Leben implodiert. Er sagte nur: »Komm.«
Am nächsten Tag setzte ich mich in den ersten Flieger Richtung Mittelmeer. Da wohnte er inzwischen. Ich schlief auf dem Sofa, das in der Loggia stand. Morgens weckten mich die Möwen. Er fragte mich nie. Wartete geduldig, dass ich zu erzählen begann. Hörte zu und schwieg. Er wartete, dass ich mir die Antworten, die ich brauchte, irgendwann selber gab. Dann nahm er mich in den Arm und führte mich in ein Bistro oder eine Bar. Wir tranken. Gemeinsam. Viel. Wir Lachten. Und torkelten anschließend leichtfüßig den Strand entlang. Der abnehmende Vollmond schenkte uns Licht, wir fielen nicht, wir flogen heim. Zehn Tage blieb ich bei ihm. Etwas mehr als eine Woche reichte, um zu wissen, was nun zu tun war. Zelte baut man auf. Man baut sie auch wieder ab, wenn es Zeit war, zu gehen. Meins stand nicht in Südfrankreich. Es verrottete woanders.
»Es gibt da noch eine letzte Möglichkeit.«
Der Security-Mitarbeiter vom Flughafen blickte zuerst auf den Stoffbeutel in seiner Hand, dann mir direkt in die Augen. Er wirkte überraschend ernst.
»Drüben ist eine Papeterie«, sagte er nach einem Moment und deutete auf einen Zeitschriften- und Schreibwaren-Shop am Ende der Abflughalle.
»Stecken Sie das Messer in einen Umschlag und schicken Sie es sich nach Hause.«
Ich schwieg weiterhin. Seine Idee war lieb gemeint, ja. Ich wusste gleichzeitig aber auch um die französische Post, welche Risiken sich mit einem Versand verbanden. Mein Freund hatte mir mehrfach berichtet, dass Lieferungen nicht ankamen, geklaut wurden, unauffindbar blieben. Auch der Sicherheitsbeamte schwieg nun. Nach einem Moment drückte er mir das Messer in die Hand.
»Vertrauen. Mehr können Sie jetzt nicht tun.«
Ich nickte stumm. Er hatte Recht. Ich ging zur Papeterie. Es gab wattierte Umschläge, sicher ein minimaler strategischer Vorteil, um einen Diebstahl etwas unwahrscheinlicher zu machen. Hoffte ich. Die Verkäuferin lieh mir ihren roten Filzstift, ich schrieb meine Anschrift drauf. Hielt aber inne, nachdem ich meinen Vornamen vollendet hatte. Als Nachnamen wählte ich – und in Großbuchstaben – jenen »Mädchen«- bzw. Familiennamen, den ich wieder annehmen würde, wenn mein Zelt sorgsam eingepackt war, um woanders aufgeschlagen zu werden. Der Umschlag plumpste sanft in den Briefkasten am Ausgang des Flughafens. Mir klopfte dabei das Herz bis zum Hals. Das Messer hatte nun eine zusätzliche Bedeutung für mich. Sollte es ankommen, adressiert an meine neue alte Identität, wäre alles gut. Und ich auf dem richtigen Weg. Ein Omen, sozusagen, dessen Ausgang ich La Poste und Deutsche Post anvertraute. Manchmal muss man loslassen, um festen Boden unter den Füßen zu bekommen. Ich nickte dem Sicherheitsbeamten zu als ich zum Gate ging. Dann hing ich in der Luft über Zentraleuropa.
Fünf Tage später hielt ich den unversehrten Umschlag erneut in den Händen. Ich küsste ihn. Packte das Messer zu meinem Zelt, das bereits sorgsam verschnürt war, stieg in meinen französischen Kleinwagen und fuhr der aufgehenden Sonne entgegen.
[Beitrag für: Standort West 06/2019]
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