24.03.2014

So vieles, was ich nun über das Leben weiß, wie es grundsätzlich funktioniert (und wie auch ich funktioniere), welche Widerstände immer wieder erscheinen, wie sie zu überwinden sind, warum Ausdauer lohnt und Jammern nicht, wozu Grenzen da sind, dass sie nur im Kopf existieren und mühelos verschoben werden können –– all das habe ich vom Laufen gelernt.
Ich habe keine Ahnung, wer oder was mich vor gut 3 Jahren dazu brachte, regelmäßig die Joggingschuhe aus dem Regal zu ziehen. Mir bleibt nur ein Wort: Danke.

23.03.2014

Ich streife gerne durch die Felder und Wälder hier bei uns, knapp vier Stunden waren es heute, begleitet wurde ich seit langer Zeit mal wieder von Paul LeChien. Menschen begegneten uns in dieser Zeit exakt drei, wobei zwei davon hoch zu Ross Richtung Hohes Wäldchen stolzierten und uns in die Rolle des Publikums bugsierten, in die wie ihrer Meinung nach anscheinend gehörten.
Ansonsten gab es keine sozialen Begegnungen, ich konnte mit mir, meinen wenigen Gedanken und den zahllosen Grün- und Buntspechten einen entspannten Nachmittag verbringen. Herr LeChien ist von seiner Art ja auch extrem schweigsam und störte meine Kontemplation demnach nicht im Geringsten.
Wenn ich dann so die ruhigen Forstwege und Steige entlang wandere, allein aber nicht einsam, dann stelle ich mir oft vor, dass ich in ein Zeitloch gefallen bin und mich unvermittelt in der Vergangenheit, vielleicht im Jahre 1870, in dieser Landschaft wieder finde:
Die Sonne ist noch nicht ganz aufgegangen. Ich bin auf dem Weg von Ruppichteroth nach Weyerbusch. Ich habe eine schwere Kiepe auf dem Rücken, mit Kartoffeln und Rüben aus meinem Garten, ich muss das Zeug verkaufen, auf dem Markt in Weyerbusch, ich brauche Geld, die Jüngste ist krank und die Medizin teuer. Einfache und knüppelharte Lederstiefel, die schon so alt sind, dass ich gar nicht mehr weiß, wie lange ich sie schon besitze, trage ich an den Füßen. Ich möchte nur ankommen, ich möchte mein Geschäft erledigen, und wieder nach Hause. Die einfache Strecke hat ungefähr 25 Kilometer. Wenn ich mich ran halte, schaffe ich sie in 4 Stunden. Zwei bis drei Stunden auf dem Markt, eine Fettsuppe und ein Glas Bier im Gasthof, aber nur, wenn das Geschäft gut gelaufen ist, dann wieder zurück, zuerst über die Leuscheid, jener Höhenzug, der die Obere Sieg vom Westerwald trennt, dann über die Nutsch. Es ist April, das Wetter wechselhaft, von Sonne bis Eisregen ist alles möglich – und hier stets so gut wie sicher. Wenn nichts dazwischen kommt, bin ich vor Anbruch der Dunkelheit wieder zuhause. Hoffentlich hat die Frau etwas Brennholz im Wald sammeln können, sonst werden Abend und Nacht wieder bitterkalt in unserer kleinen Kate, deren feuchte Kälte mir irgendwann den Todesstoß versetzen wird. An Rheuma und Gicht habe ich mich ja schon lange gewöhnt. Die Kleine jappst seit Tagen nach Luft, sie ist blass und schwach. Ich hoffe, sie ereilt nicht das Schicksal ihres drei Jahre alten Bruders, der letzes Frühjahr in meinen Armen starb, weil Schwindsucht seine letzen Kräfte raubte. Als ich zuletzt diesen Weg nach Weyerbusch auf mich nahm, in jenem eisigen Februar, dessen Frost mir den kleinen Zeh nahm, sah ich im letzten Moment – und bevor sie mich entdeckten – eine lauernde Ganovenbande, die darauf aus war, Handelsleute zu überfallen. So leise ich konnte stahl ich mich durchs Unterholz an ihnen vorbei und entkam dabei im letzten Moment einem Keiler, dem ich unbemerkt zu nahe getreten war. Josef, mein Schwager, wurde im letzten Mai von einer Wildsau angegriffen, die ihre Jungen schützen wollte. Ihre Reißzähne haben sich fast einen halben Meter von oberhalb des Knies bis hoch zur Hüfte durch sein Fleisch gebohrt und die Venen durchtrennt. Es dauerte keine vier Minuten und er war verblutet. So ein Leben ist nichts Großes. So schnell und unvermittelt, wie es geschenkt, ist es auch schon wieder genommen. Überleben als Ziel …

So in der Art sind meine Gedanken, dort oben in den Wäldern, die mir für ein paar Stunden ganz allein gehören. Bis ich dann ‘zufälligerweise’ mein Smartphone in der inneren Jackentasche spüre. Und begreife, wie nichtig und unwichtig so vieles ist. Im Grunde.

22.03.2014

Den rechten Mittelfinger habe ich mir heute zum zweiten Mal an der exakt gleichen Stelle sehr böse gequetscht, das Blut quoll unter dem eh schon auberginefarbenen Nagel nur so hervor und versaute sowohl meine Jeans als auch die Böden von Küche und Bad der alten Wohnung meines Bruders, dem ich gerade beim Umzug half.
Nicht die Tatsache, dass dies alles so geschah gibt mir zu denken, sondern die Frage, nach dem »warum« – bzw. dem, was ich möglicherweise durch die Massierung begreifen soll. Vielleicht ist es wirklich nur dummer Zufall gewesen. Vielleicht sollte ich aber endlich mal wieder von Sex reden.

21.03.2014

»Guck mal, jetzt lächelt er doch!«
Verschmitzt blickt die Mittdreißigerin, die später ein Date mit einem Zwanzigjährigen haben wird (was sie etwas zu laut, weil offensichtlich mit Stolz erfüllt, gerade allen Umstehenden verkündet hat) zu ihrer Freundin, die hinter dem Verkaufstresen steht und mir den heißen Pappbecher reicht.
»Na, er freut sich auf seinen Kaffee«, analysiert diese und nimmt meine Münzen entgegen.
Mir fällt auf, dass ich tatsächlich die ganze Zeit griesgrämig in die Welt geblickt haben muss.
»Ach, ich bin nur müde«, antworte ich unbeholfen und warte darauf, dass die beiden laut losprusten, da ich so schlecht lügen kann.

20.03.2014

Resurrection Day (I)

Saalfeld, Thüringen, 20. März 2013
»Ich konnte das alles nicht annehmen, wahrhaben. Nein, das konnte nicht sein. Durfte nicht sein. Es passte wieder mal nicht in mein Konzept: Ich bin nicht liebenswert, ich besitze keine Empathie, kann demnach nicht lieben, ich bin ein Blender, ein Stück Scheiße – »Why don’t you kill me?«

E. schob mir eine Postkarte unter der Tür durch. Darauf stand: “Tue deinen Mund auf für die Stummen und für die Sache aller, die verlassen sind. (Buch der Sprüche). — Du hast eine große Gabe, dich leidenschaftlich und kraftvoll für etwas einzusetzen, das dir sehr am Herzen liegt.”

Ich war verwirrt. Ich ging spazieren. Ich hörte Stumbleine. Und begann zu weinen. Erst leicht. Dann heftiger. Ich wusste nicht warum. Dann fand ich den Baum, von dem ich schrieb. Und er sagte mir, auch wenn du meinst, ich hätte einen Knall: »Du musst da raus gehen und die Wärme weiterreichen. Du kannst es und musst keine Angst haben. Habe Vertrauen. Du hast alle Gaben und Fähigkeiten, die du dazu benötigst. Du bist liebenswert. Und ich liebe dich.«
Unschwer zu erkennen: die Eiche gab meiner Intuition Gestalt, offenbar brauche ich immer eine gewisse poetische Überhöhung, um Weisheit und Erkenntnis in mein Bewusstsein dringen zu lassen.«

19.03.2014

Es hat geregnet in der Nacht, die Luft ist klar und frisch und ich bin wach, und zwar ganz anders wach als sonst, so vollkommen luzide und ruhig – scheinbar hielt mir irgendetwas, irgendwer (oder vielleicht auch nur der Stand des Mondes) einen Steigbügel hin am Ende der Dunkelheit, um nun friedvoll den Tag zu umarmen, der da nicht mehr lauert, sondern lockt.

18.03.2014

In dem wunderbaren Film »Little Big Man«, in dem der ebenso wunderbare Dustin Hoffman ein über hundertjähriges Bleichgesicht spielt, das sein Leben unter Rothäuten verbrachte und nun seine Erlebnisse Revue passieren lässt, gibt es diese großartige Figur des »Younger Bear«: Regelmäßig legt dieser einen »Backwards Day« ein – da reitet er rückwärts auf dem Pferd, sagt ‘ja’, wenn er ‘nein’ meint und verhält sich auch sonst ganz bewusst gegenteilig.
Diese Figur fand ich schon als Kind, als ich den Film zum ersten Mal sah, absolut faszinierend.
Nun, als reifer Mann, werde ich seinem Beispiel folgen.

17.03.2014

Ich nehme die Herausforderung an, mit einem Lächeln auf den Lippen, während mein Darmgehirn gerade massive Oppositions-Flatulenzen entwickelt. Mal sehen, wer länger durchhält.

16.03.2014

Ein Jahr später: Übergang zu Phase II der Neuprogrammierung. Knapp 2100 km habe ich mich dafür warm gelaufen, gut 2000 Stunden ausgeruht. Mein Wille ist titanisch und birgt eine Kraft, die nicht nur Schuttberge versetzt, sondern Weltbilder, wenn ich es nur zulasse. Die bewusste Selbst-Über-Windung hat das Ego perforiert und durchlässiger gemacht. Der freigelegte Kern ist überraschend liebenswert. Nun gilt es, diesen Rohdiamanten beharrlich zu schleifen, die Willenskraft neu auszurichten und der Welt und sich mit unnachgiebiger Warmherzigkeit zu begegnen – gerade, weil es so schwer fällt.

15.03.2014

Getriebene Blicke in den Abgrund, aufs ewig quengelnde Tamagochi. Panzerradgroße Duroplaste separieren derweil zumindest akustisch verängstigte Ichs von Anderen. Rasender Stillstand in der Komfortzone. Der nächste Zug zurück in die Provinz fällt aus, irgendwo zwischen Ehrenfeld und Süd ist eine Person im Gleis. Mich wundert, dass es nur eine ist. Die Stadt ist schön. Wenn man sie von außen brennen sieht.