03.04.2014

Obwohl Fäseke sich momentan fühlte, als wären in der Nacht Bataillione frei flottierender Braunkohlebagger über ihn hinweg gerollt, war er dennoch in der Lage, über seine Lage nachzudenken: »Komisch, dass gerade in dem Moment, wo man so richtig Gas geben will, der olle Körper die Handbremse anzieht!«, echauffierte er sich.
Paul LeChien lümmelte auf einer schicken original 70er-Jahre-Bastmatte, die er kostengünstig in der lokalen FDP-Kleiderkammer erstanden hatte und nordete seinen Po im rechten Winkel aus, genau so, wie es ihm der weise Herr Prunus stets empfohlen hatte, damit die Sonnenstrahlen auch wirklich überall bei ihm ran kämen. »Der olle Körper weiß halt am besten, was richtig ist. Heißt ja nicht umsonst: “Auf den Bauch hören”. Da fällt mir ein: Was kochst du uns gleich denn Leckeres?« Dabei schnalzte er so laut mit der Zunge, dass Herr Prunus sich schütteln musste vor lauter Entzücken.

02.04.2014

01. INNEN. AUDIMAX – TAG

BLICK VOM DOZENTENPULT IN DIE OBEREN REIHEN

Der Audimax einer Universität – menschenleer.
Verlassene Plätze, wohin man blickt.

Ein leises KNARZEN ist zu hören: Die obere Hörsaal-Tür öffnet sich ganz langsam und die JUNGE FRAU betritt den Raum. Sie ist hübsch, auf eine ganz natürliche Art, absolut ungekünstelt. Ihre ganze Erscheinung ist mädchenhaft, dennoch auch irgendwie energisch.

Ganz vorsichtig, als wolle sie niemanden stören, zieht sie die Tür hinter sich zu.

SUBJEKTIVE DER JUNGEN FRAU:
Blick nach unten in den gähnend leeren Hörsaal.

Die JUNGE FRAU zögert einen Moment, schaut schnell auf ihre billige Plastikarmbanduhr, quittiert dies mit einem Schulterzucken: »Tja, die Zeit stimmt auf jeden Fall«, scheint sie zu denken.

Ohne Eile geht sie zum Treppenabgang, bleibt stehen und überlegt, wo sie Platz nehmen soll – immerhin hat sie heute die ganz große Auswahl. Ein Lächeln huscht über ihr Gesicht. Schnurstracks steuert sie die vierte Reihe von oben an, schreitet sie ab, zählt stumm die Plätze nach links und die Plätze nach rechts – und, als sie sicher ist, genau die Mitte gefunden zu haben, legt sie ihren verschlissenen Rucksack ab, zieht ihre Jeans-Jacke aus, klappt den Sitz runter und setzt sich hin, mit einem Seufzer der Zufriedenheit.

Prüfend blickt sie sich noch ein mal um – ja, sie ist tatsächlich ganz allein in diesem großen Raum. Sie überlegt, was sie machen soll. Dann fischt sie einen Apfel aus ihrem Rucksack, wischt ihn am Ärmel ihres Sweat-Shirts ab und beißt genüsslich hinein. Doch statt eines satten Schmatzens HÖRT man ein extrem LAUTES QUIETSCHEN.

Das Geräusch kommt von der Eingangstür unten links neben der Tafel. Der JUNGE MANN betritt energisch, perfekt gegelt und vor Selbstbewusstsein strotzend den Hörsaal. Er trägt offensiv exklusiven Marken-Zwirn: Ralph-Lauren-Jacke, Polo-Shirt von Gant, Timberland-Segelschuhe. Laut lässt er die Tür ins Schloss fallen und schultert seine Zirkeltraining-Tasche.

Leicht irritiert beobachtet die JUNGE FRAU dieses markante Entrée.

Der JUNGE MANN blickt sich im Audimax um. Alles frei. Bis auf eben diesen einen Platz da oben, in der vierten Reihe, in der Mitte.

Ein Lächeln umspielt seinen glattrasierten Mund. Er geht, mit Ziel fest im Blick, die Treppenstufen hoch.

SUBJEKTIVE DER JUNGEN FRAU:
Der JUNGE MANN kommt nach oben, passiert Reihe und Reihe, macht bei Reihe vier eine weihevolle Kunstpause und steuert dann direkt auf die JUNGE FRAU zu.

Ihr Gesichtsausdruck zeigt überdeutlich, dass sie sich unwohl in dieser Situation fühlt. Zu allem Überfluss hat sich der JUNGE MANN inzwischen direkt bis zu dem Platz neben ihr durch gearbeitet.

Ohne »Hallo« zu sagen, und ohne zu fragen, ob der Platz neben ihr überhaupt frei ist, macht er sich breit. Reflexhaft rutscht die JUNGE FRAU ein Stück zur Seite.

Der JUNGE MANN zieht die Jacke aus, klappt den Nachbarsitz herunter, faltet die Jacke ordentlich zusammen und legt sie sorgsam ab. Dann beginnt er, seine Arbeitsuntensilien aus der Ledertasche zu ziehen und sie vor sich auf dem Klapptisch auszubreiten. Es macht alles bewusst langsam, sehr genussvoll und ist dabei stets auf die richtige Wirkung bedacht: er möchte, dass die JUNGE FRAU ihn bewundert.

Zuerst zieht er ein MacBook Air hervor, klappt es schwungvoll auf und drückt lustvoll den Powerbutton, was den Startup-Sound laut im Hörsaal widerschallen lässt.

Die Augenbrauen der JUNGEN FRAU verengen sich ein wenig.

Dann drapiert er sein iPhone akkurat im rechten Winkel links neben dem Laptop. Das Arrangement stimmt, jetzt schnallt er seine Uhr vom rechten Handgelenk und drapiert sie – eine Patek Philippe – rechts neben den schicken Alu-Rechner und zwar so, dass man das Zifferblatt gut ablesen kann.

Mit diversen Seitenblicken hat der JUNGE MANN dabei immer wieder geprüft, ob die JUNGE FRAU auch wirklich alles gesehen hat.

Ja, hat sie: Sie wirkt nur irrtiert – nicht beeindruckt oder gar genervt – von seinem Verhalten.

Er möchte natürlich in Erfahrung bringen, ob all diese Insignien auch für den erhofften Eindruck gesorgt haben. Ganz leicht zieht er seine Augenbrauen hoch und deutet super beiläufig auf die Staffage auf dem Klapptisch vor sich. Er ist nicht auf Neid aus, er möchte Anerkennung.

Die JUNGE FRAU ist empathisch genug, um dies zu spüren. Sie könnte ihn jetzt abkanzeln, sie könnte angewidert lächeln oder gar ohne Worte den Platz wechseln.

Stattdessen beginnt auch sie, ihre Sachen auszupacken: Einen Handy aus Vorkriegstagen, einen College-Block mit Eselsohren.
Dann drappiert sie, ähnlich wie er gerade, ihre billige Plastikuhr akkurat daneben.

Auch sie zieht nun ganz beiläufig ihre Augenbrauen hoch und deutet nicht ganz so beiläufig auf ihr billiges Ensemble: »Na, wie findest du das?«, scheint sie fragen zu wollen.

Nun ist der JUNGE MANN sichtlich irritiert.

Die JUNGE FRAU bemerkt dies und lächelt.

Plötzlich scheint sie eine Eingebung zu haben: Umständlich kramt sie ihr Portemonnaie aus der hinteren Hosentasche, öffnet es und zieht ein Foto heraus.

Ohne, dass wir sehen, was es zeigt, legt sie es neben den College-Block.

Sie blickt dem JUNGEN MANN direkt in die Augen und deutet mit dem Zeigefinger auf das Foto.

Der JUNGE MANN wendet unsicher seinen Blick von ihrem Gesicht, folgt ihrem Finger und schaut neugierig auf das Bild.

Wir sehen, was er sieht:
Das Foto zeigt die JUNGE FRAU, wie sie ein kleines Baby in den Armen hält und ganz liebvoll knuddelt.

Der JUNGE MANN ist plötzlich wie ausgewechselt, er wirkt nun fragil und unsicher.

Mit einem gewinnenden, aufmunternden Lächeln hält die JUNGE FRAU ihm den bereits angebissenen Apfel hin.

Der JUNGE MANN überlegt, was er tun soll.

FIN.

01.04.2014

Dieses Journal führt zu nichts. Ich werde es heute beenden. Außerdem bin ich vergrippt. Und meine Glieder schmerzen. Und der Kopf hohl wie ein Kürbis an Halloween. Und auch sonst so. Und überhaupt. Und tschüss.

31.03.2014

Bei aller Selbstliebe:

Ich möchte mich so gerne vergessen
Damit die Sicht freier wird
Zwischen dem Selbst
Und dem Du

Es ist töricht,
Wenn Du glaubst,
Antworten irgendwo anders
Zu finden

30.03.2014

Noch lässt der Ginkgo vor meinem Fenster auf sich warten. Die Äpfel um ihn herum laden ihn seit Tagen schon freundlich ein: »Schau’ und fühl’ die Sonne, die Wärme! Komm’, blüh’ mit uns!«
Doch der alte Mann aus dem Osten hat sein ganz eigenes Tempo. Erst dann, wenn man gar nicht mehr damit rechnet, kommt er aus sich raus. Ganz leise, ganz unspektakulär. Das genau ist der Grund, warum ich diesen Baum so unendlich mag: Er ist ein Meister des Timings.

29.03.2014

Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll, alles lockt und buhlt um meine Gunst. Und dann noch dieser gauloisefarbene Himmel: er lädt zu Höhenflügen ein.
Nun, dies an sich ist nichts Besonderes. Bemerkenswert ist nur die Tatsache, dass ich dabei auf dem Boden bleiben muss, wenn ich dem Gras nachher zärtlich seinen ersten Façonschnitt verpasse.

28.03.2014

Im Zug säße ich jetzt, 7:54 – 8:34, ich wäre hinter Siegburg, die Schnattergänse der Kreis- und Finanzverwaltung hätten ihre Plätze frei gemacht für müde Studenten oder hyperaktive Sparkassenfachwirte, die mit mir zusammen werktäglich in die nördlichste Stadt Italiens pendeln. Bekannte Gesichter ohne Namen und Geschichte. Passanten. Wie ich selbst einer bin – besser: war.
Stattdessen sitze ich am Schreibtisch, am offenen Fenster. Ich winke der Nachbarin zu, die sich aufmacht in ihre Pflanzenwelt und am Abend duftend zurück kehrt. Später werde ich mit einem Doppio unter der Magnolie stehen, staunen und einatmen und ausatmen. Ich werde tun, was getan werden darf. Nicht muss.
Es gibt eigentlich nur eins, was ich wirklich muss: mich daran gewöhnen, dass alles jetzt wirklich so ist.

27.03.2014

»Das Wochenende soll schon werden«, verspricht der Wetterbericht. An sich ist das prima. Andererseits vergisst man so leicht dabei, auch und besonders den Regen zu lieben. Das schreibe ich natürlich nur, weil mein Nacken heute extrem verspannt ist.

26.03.2014

Es ist ein schönes Gefühl, diese alte, verbeulte und mintgrüne Blechtasse in den Händen zu halten, die Wärme des Kaffees in die Hände, dann den ganzen Körper strömen zu lassen und dabei den erdigen Geruch ausgequetschter Arabica-Bohnen zu riechen. Noch schöner jedoch ist die Tatsache, dies (und noch viel mehr) vollumfänglich (wieder) als das zu erkennen, was es ist: alles andere als selbstverständlich, ein Geschenk. Und dies genau so und nicht anders zu spüren. Das nennt man wohl »bescheidenes Glück«.

25.03.2014

Fäseke wollte vor dem Schlafen eigentlich lesen, dachte aber nach, weil diese Gedanken gedacht werden mussten: »Wie kann es sein, dass ein Tag, an dem so unendlich viel falsch läuft – der Zug fällt aus und ein wichtiger Termin platzt, ein neuer Schnürsenkel reißt unter leichtestem Zug, ein unachtsamer Passant verschlabbert Kaffee auf meine Schuhe und merkt es nicht mal, und dann wird auch noch die neue Badezimmerlampe defekt geliefert – wie kann es sein, dass so ein Tag am Ende so friedlich und zärtlich endet?«
Paul LeChien räkelte sich am Fußende des Bettes und wies dann einem Floh, der vor sich hin flötend so tat, als wäre er gar nicht da, den Weg in die Freiheit. »Weil du es endlich einmal zugelassen hast, nur darum«, murmelte Paul und genoss dabei sichtlich den Lavendel-Geruch, der von der frischen Bettwäsche aufstieg.