Duralex

Plötzlich weinte er. Still und fast nicht wahrnehmbar, eher ein leises Wimmern. Ihr war das unangenehm. Sie wollte im Grunde doch nur, dass er sie endlich in Ruhe lässt und aufhört, ihr mit seinem komischen Grinsen auf die Nerven zu gehen. Sie griff in ihre Tasche und suchte nach einem Kleenex. Ein klammes Gefühl kroch ihr den Rücken rauf. Jenes Gefühl, das sie eigentlich nie wieder spüren wollte.

Am Nachmittag hatte sie beschlossen, dass ihr Leben sich ändern muss. Hier drehte sie sich zu lange schon im Kreis. Sie würde diese Stadt, die ihr bei jeder Gelegenheit Steine hinterher schmiss, endlich verlassen. Sie wusste, sie muss weg von hier, sie wollte nach Osten, dorthin, wo die Sonne aufgeht. Dieser Entschluss machte sie glücklich, eine angenehme Ruhe breitete sich in ihr aus.

Ein Grund zum Feiern. Sie wollte darauf einen Trinken gehen, nur kurz, ins Elektra, ihrer Lieblingskneipe zwei Strassen weiter. Auch, um sich innerlich zu verabschieden, ganz sanft. Als Anfang.

Sie hatte den zweiten Pernod bei Waltraud bestellt, als ihr dieser Junge am anderen Ende der Theke auffiel. Er musste schon länger da gestanden haben, sein Deckel zierte ein ansehnlicher Kranz. Ihr war er beim Reinkommen gar nicht aufgefallen und auch sonst hatte sie ihn hier noch nie gesehen. Er war sturzbetrunken. Sie spürte, dass er sie eine ganze Weile schon anstarrte. Vorsichtig erwiderte sie seinen Blick. Leichter Ekel kam in ihr hoch, Kerle wie ihn konnte sie nicht leiden. Noch nie. Doch er verstand ihren Blick als Aufforderung. Ehe sie begriff, wie es passieren konnte, stand er bei ihr und lächelte sie an, von unten, aus seinem Milchbartgesicht.

– Hast du mal ’ne Zigarette?

Er riss sich sichtlich zusammen, der Alkoholpegel in seinen Adern war dermaßen hoch, dass er Mühe hatte, seine flatternden Augen zu kontrollieren. Wortlos hielt sie ihm ihre Schachtel hin, mit zittrigen Fingern fischte er eine Kippe heraus und brauchte drei Anläufe, sie zwischen seine Lippen zu stecken.

Warum gerade jetzt, warum gerade ich, dachte sie und bemerkte seinen fragenden Blick von der Seite.

Er wartete auf Feuer. Leicht genervt riss sie ein Streichholz an und hielt es ihm hin.
Waltraud kam, servierte den Pernod und warf ihr einen schnellen, mitfühlenden Blick zu.

– Ich hau ab aus dieser Stadt. Es wird Zeit.

Waltraud nickte beiläufig und verschwand in einem Nebenraum. Sie wußte nicht, was Waltraud von ihrer Entscheidung hielt. Aber es war ihr inzwischen auch egal.

– Nimmst du mich mit?

Der Typ neben ihr kratzte sich nervös am Flaum unter der Lippe.
Keine zwanzig. Und schon fertig und kaputt, ging ihr durch den Kopf. Sie empfand kein Mitleid.

– Nein, sagte sie, dich nehm‘ ich bestimmt nicht mit. Außerdem hast du ja keine Ahnung, wo ich hin will.

Ohne zu fragen griff er nach ihrem Pernod. Sie riss ihm das Glas im letzen Moment wieder aus den Fingern.

– Das ist meiner, okay?

Er zuckte mit der Schulter, versuchte entwaffnend zu lächeln und sah dabei aus, wie ein Vierklässler, den man gerade beim Rauchen erwischt. Sie hatte sich so gut gefühlt heute, so befreit. Und das wollte sie sich auf keinen Fall versauen lassen. Leute, wie er – Schnorrer, Neurotiker – hatten ihr zu lange schon den Blick fürs Wesentliche verbaut. In dieser Stadt wimmelte es von ihnen und ihr Entschluss, hier abzuhauen, war goldrichtig, das wußte sie jetzt.

– Kann ich bei dir schlafen?, fragte er ohne mit der Wimper zu Zucken und sie verschluckte sich fast.

Eine gesalzene Replik lag ihr schon auf der Zunge, doch sie schwieg und durchbohrte ihn nur mit den Augen. Auf dem Weg in die Kneipe hatte sie sich vorgenommen, ihre Energien ab sofort besser einzuteilen. Nicht auf seine unverschämte Frage einzugehen erschien ihr als beste praktische Umsetzung des neuen Vorsatzes. Einen kurzen Moment war sie richtig stolz auf sich.

– Hast bestimmt ’ne große Wohnung, murmelte er ohne Erklärung.

– Korrekt. Ich fahr mit Rollschuhen von der Küche ins Klo. Aber fürs Bad nehm‘ ich das Rad. Ist schneller, antwortete sie etwas zu schroff und ärgerte sich sofort, wieder in alte Gewohnheiten zurückgefallen zu sein.

Der Typ neben ihr pfiff voller Anerkennung durch die Zähne, versuchte es zumindest, es hörte sich an, als ließe jemand die Luft aus einem Ballon. Dann spürte sie seine Hand auf ihrem Unterarm, sie war nass vor kaltem Schweiß. Sein Blick suchte ihre Augen, das wußte sie, aber sie schaute nicht zurück.

– Du bist ’ne tolle Frau, sagte er leise.

Weder übertrieben charmant noch betont beiläufig. Einfach so. Sie nahm einen grossen Schluck Pernod und ging im Kopf all die Sachen durch, die schon bald zu erledigen waren. Sie riss aus ihren Gedanken als sie seinen Kopf an ihrer Schulter spürte. Sein Haar roch streng. Wie eine alte Frau, die der Zivi vergessen hat. Mit einem Ruck entzog sie sich, er konnte sich gerade noch am Tresen festhalten. Aber er lächelte weiterhin tapfer, wie schon die ganze Zeit. Solch ein Gesichtsausdruck war ihr völlig fremd. Es machte sie unruhig.

– Ich bin nicht von hier, musst du wissen, sagte er, als handle es sich dabei um eine Offenbarung.

Erst jetzt bemerkte sie seinen leichten Akzent. Schwäbisch, eindeutig. Sie atmete tief durch und überlegte, wie sie aus dieser Situation wieder rauskommen könnte. Sie wollte doch nur ihre Ruhe, stumm ein, zwei Gläser kippen. Wenigstens einmal. Wenigstens jetzt. Gerade jetzt. Sie schob ihm den Rest vom Pernod rüber und versuchte sich auf die Musik zu konzentrieren, die im Hintergrund lief. Das Stück kannte sie, es hatte eine ganz einfache Melodie, wie bei einem Kinderlied, kleine Terz, große Terz. Ihr fiel der Titel nicht ein und das machte sie unruhig. Er nahm einen Schluck von ihrem Glas. Ganz so, als wäre es schon immer seins gewesen. Er war tatsächlich sturzbetrunken, kein Zweifel. Sie fragte sich, ob Waltraud den Ehrenkodex vergessen hat: Gäste, die eindeutig genug haben, bekommen nichts mehr. So kannte sie es von früher. Als sie selbst noch auf der anderen Seite des Tresens stand. Wieder bemerkte sie seinen Blick, wie er auf ihr haftete. Unangenehm. Sein blödes Grinsen machte sie langsam wahnsinnig. Dann rutschte er ab und knallte mit seinem Kopf unten gegen ihren Hocker.

– Grossartig, murmelte sie leise und zog ihn schnell wieder hoch.

Er lächelte weiter als wäre nichts geschehen. Nach unendlichen Sekunden hatte er es geschafft, wieder auf seinem Hocker Platz zu nehmen. Wie er jetzt so da saß, leicht schwankend, dieser Milchbart, seine öligen Haare ins Gesicht gefallen – das erinnerte sie an jemanden. Ihr fiel schließlich ein, an wen: an ihren jüngeren Bruder. Drei Jahre hatte sie ihn nicht mehr gesehen. Mindestens. Dieser Gedanke ließ sie ungewohnt erschrecken. Er kippte die letzen Tropfen Pernod in sich rein, dabei entglitt ihm das Glas aus den Fingern, fiel zu Boden und zersplitterte in Tausend Teile.

– Scheiß Duralexgläser.

Sie beugte sich über die Theke zu Waltraud.

– Schlimmer als Autoglas. Aber du wolltest ja nicht hören.

Waltraud seufzte, kramte einen Handfeger hervor und kam vor die Theke. Er aber hatte offenbar sein kleines Malheur gar nicht mitbekommen. Mit leeren Blick starrte er auf die Digitalanzeige des CD-Players hinten im Regal.

Wie alt der wohl ist? Achtzehn? Höchstens, dachte sie und rückte mit dem Hocker ein Stück zur Seite, damit Waltraud die Scherben zusammen kehren konnte.

– Hey, ist wohl besser, du gehst jetzt nach Hause, sagte sie betont freundlich in seine Richtung, sonst macht sich deine Mama noch Sorgen.

Die CD war zu ende, mit leisem Surren fuhr der Laser in seine Ausgangsposition zurück. Mist, wie hieß dieses Stück noch mal? Ihr wollte es partout nicht einfallen. Ich werd sie wohl fragen müssen, dachte sie und beobachte Waltraud – sie war mit den Scherben fast fertig.

– Sie kann sich keine Sorgen mehr machen, weißt du?, sagte er genau in jenem Moment, als ihr entfallen war, dass sie ihm diesen wohl gemeinten Tip gegeben hat.

Sie blickte irritiert in seine Richtung, sah, dass er immer noch stur auf die rote Anzeige des CD-Players starrte, als hoffe er, die Ziffern würden erneut zu tanzen beginnen und es dauerte ewig, bis sie bemerkte, dass ein leichtes Zucken durch seinen Körper ging. Sie erkannte nicht gleich, was mit ihm los war und hielt es anfangs für einer Art motorischen Tick. Dann wurde ihr klar, dass er weinte. Kaum merklich, aber er weinte.

Scheiße, dachte sie, warum immer ich?
Schweigend zog sie ein Kleenex aus der Tasche und ihr war klar, dass es nicht bei diesem einen bleiben würde.

Lesen. Aufgelesen.

Es ist ihr Rock, der mir zuerst ins Auge fällt – so ein Jeans-Rock, der fast bis zu den Knöcheln reicht, in verblichenem Indigo und aus einem Stoff, der an Zonen-Gabis Hemd erinnert – jenes auf diesem politisch alles andere als korrekten Cover-Foto der Titanic, vor zwanzig Jahren. Sie quetscht sich mir gegenüber in den Vierer des Regionalexpress nach Köln, schlägt die Beine züchtig übereinander, berührt dabei mein Knie mit ihren flachen, farblosen Schuhen und ich entdecke dunkelgraue Strümpfe, die gefühlt bis unter ihre Achseln reichen müssen. Vom Alter her ist sie undefinierbar. Sie ist wohl so alt wie ich, ihr Äußeres jedoch lässt sie an der Grenze zum Greisenalter erscheinen. Sie meidet meinen Blick, kramt in ihrer Jute-Tasche, während ich meinen MP3-Player auf das nächste Stück skippe – LCD Soundsystem, Drunk Girls, irrer Groove – und in die Sonne blinzle. Irgendwann schaue ich wieder in ihre Richtung, weil der Schaffner im Hintergrund erscheint – und habe plötzlich die Halluzination, ein teutonisches Exemplar der Mormonen-Sekte vor mir sitzen zu haben. Und tatsächlich, wie der Teufel es will: die Frau liest in einem Buch, dass Buch ist antik und schwarz, es hat einen abgewetzten Einband – und auf dem Falzrücken steht in Sütterlin-Schrift »Die Bibel«. Ich sehe ihre Augen langsam über die Worte wandern. Sie ist etwa in der Mitte der heiligen Schrift vertieft – irgendwo zwischen Hiob und Hohelied. Sie spürt nach einem Moment offenbar meinen Blick auf sich. Wirkt überrascht, dann gehetzt. Klappt die Bibel zu, stopft sie in die Tasche, steht übereilt auf und geht wortlos in ein anderes Abteil. Ich blicke ihr nach und frage mich, ob ich möglicherweise etwas falsch gemacht haben könnte.

Sein Maleranzug ist mit lustigen Farbsprenkeln übersäht. Mit einem leisen »Uff« setzt er sich mir gegenüber auf die Sitzbank in der Linie 16 Richtung Süden. Sein Gesicht ziert ein Dreitagebart, an den Füßen: die für seinen Job wohl obligatorischen Arbeitsschuhe. Sie sind verstaubt – genau wie sein Rucksack, den er sich nun auf den Schoß wuchtet. Ein neuer Tag auf irgendeiner Baustelle wartet wohl auf ihn. Nach einem Moment beginnt er in seinem Rucksack zu kramen – was kommt jetzt? Kölsch, Express? – nein, er fischt ein vergilbtes DTV-Taschenbuch heraus, zieht sehr sorgsam den Reißverschluss des Rucksacks zu und vertieft sich in die Lektüre. Das Cover des Buches kommt mir bekannt vor. Neugierig schaue ich genauer hin und entdeckte, dass es »Haben oder Sein« von Erich Fromm ist. Ich versuche in den Furchen seines Gesichts eine Erklärung dafür zu finden. Nichts. Ein ganz normaler Maler. Hinterm Barbarossaplatz streifen Sonnenstrahlen sanft seine Wangen. Und ich frage mich, ob nicht doch noch Grund zur Hoffnung besteht.

Er macht bestimmt in Marketing, dieser gegelte Typ im Casual-Business-Dress – erster Hemdknopf offen unter seinem Boss-Anzug – er steht breitbeinig im Restsonnenlicht am Nordwestausgang des Kölner Hauptbahnhofs, unweit der Junkie-Notstation, und schaufelt gelangweilt gebratene Nudeln aus dem Karton in seinen Mund – sie sind ausschließlich dekoriert mit leichtem Gemüse, sanft gedünstet, gesund. Sein Blick schweift weltmännisch über den tristen Vorplatz, wo es eigentlich nichts zu sehen gibt – die Junkies nahe des Bahnhofeingangs übersieht er dabei bewusst. Ihr Äußeres ist ja wenig appetitanregend. Ich stehe etwas abseits neben einer der großen Flügeltüren aus gebürstetem Metall, neben einem qualmenden Aschenbecher und rauche meine letzte Zigarette in dieser Domstadt, bevor ich in den Zug Richtung Provinz steige. Mit einer lässigen Geste drückt der Casual-Business-Mann seine Gabel in jenen Karton, den asiatische Schriftzeichen zieren. Ich habe keine Ahnung, was sie bedeuten. Vielleicht: „Dumme Deutsche versprechen gute Geschäfte“. Mit dynamischen Schritten kommt er mir entgegen, bleibt vor der Mülltonne neben dem Aschenbescher stehen und lässt den Karton sanft in den Abfallsack plumpsen. Ich erkenne, dass er mindestens die Hälfte der Mahlzeit nicht gegessen hat. Er wischt sich schnell mit einer Papierserviette über den Mund, greift innen ins Sakko, fischt ein iPhone raus und beginnt offensiv damit zu hantieren. Er ist stolz auf sein schickes Gadget und bedacht, dass auch jeder es sieht. Einer der Junkies, die nur ein paar Meter von uns stehen, blickt tatsächlich interessiert herüber. Dann kommt er auf uns zu. Aber nicht dem Mobiltelefon gilt sein Interesse, sondern dem Karton mit asiastischen Zeichen in der Mülltüte. Ohne groß zu zögern greift er in die Tonne, holt den Nudel-Karton aus dem Dreck, klappt den Deckel auf, fummelt die Gabel raus und beginnt, die Reste der Marketing-Menschen-Mahlzeit genüsslich zu essen.

– Ich habe ’nen Mordshunger, Alter!

Er schaut mich entwaffnend an, während er schlürfend die glitschigen Nudeln in seinen Mund zieht. Der Casual-Business-Mann macht derweil auf Autist. Oder ist vielleicht sogar einer. Die ganze Aktion hat er sehr wohl mitbekommen. Vielleicht ist auch die App, mit der er gerade rumspielt, nur so schweineinteressant. Es ist mir egal.
Ich frage den Junkie, aus dessen rotem Gesicht nun schmatzende Geräusche tönen, ob ich ihm eine Kippe drehen soll – quasi als Nachtisch. Er grinst und nickt hocherfreut.

Sehnsucht, nach dem »Davor«

Sie steht an der Kasse der Buchhandlung und wartet, dass sie an die Reihe kommt. Genervt ist sie: Sie will endlich ihr Buch bezahlen und nach Hause. Einkaufen ist Stress für sie. Nahkampf – alle anderen sind ihre Feinde. Sie stehen ihr im Weg, rempeln sie an, versperren den Blick auf die Auslage. Stören. Stinken. Ihre Nase nimmt plötzlich einen nicht einzuordnenden Geruch wahr. Der Geruch kommt von hinten. Sie weiß nicht, ob es unangenehm oder vielleicht sogar doch angenehm riecht. Sie denkt kurz nach, kramt in ihrer olfaktorischen Erinnerungskiste. Und kommt schließlich drauf: Alter Urin.

Sie wendet ihren Blick vorsichtig nach hinten und entdeckt einen Penner, der dicht hinter ihr steht und in dem Moment, wo sich ihre Blicke verschämt treffen, damit aufhört, mit halbgeschlossenen Augen den Duft ihrer Haare in sich aufzusaugen.

Er schaut zu Boden und dreht sich um. Geht schnurstarks auf eine Regalreihe zu, in denen Bildbände von fremden, fernen und heißen Ländern angeboten werden. Sie studiert seine äußere Erscheinung: Er hat schütteres, schulterlanges Haar, einen halbwegs gepflegten Vollbart. Seine grüne Cordhose ist vom Schmutz gezeichnet, sein Steppmantel hat blasse Flecken am Saum. Würde sie nur flüchtig hinschauen, sie würde in ihren Augenwinkeln bloß einen leicht heruntergekommenen Mitvierziger vor einem Buchregal wahrnehmen. Leicht heruntergekommen, okay, aber einer von ihnen. Doch sie sieht seine Hände. Seine Finger, die sich verkrampft zu einer Faust ballen, die kleinen Finger eigentümlich abgespreizt. Seine verschmutzen, eingerissen Fingernägel, unter denen sich der Dreck der Schildergasse wie ein Mal eingebrannt hat. Sieht, daß er zittert. Sieht seinen Blick auf die prächtigen Buchcover: Provence, Kenia, Kanada. Seine glasigen Augen, die über die Bücher huschen. So, als wolle er wirklich eines dieser teuren Bücher erstehen wollen.
 Sie beginnt zu phantasieren. Imaginiert sein Leben. Vielleicht war er damals in einem dieser fernen Länder? Damals, bevor ihm das Schicksal einen Strich durch die Rechnung gemacht hatte. Bevor er seine Frau, seinen Job und seine Wohnung verlor? Hat er Sehnsucht? Nach dem damals, dem davor? 
Sie empfindet auf einmal, ihr unerklärlich, so etwas wie Mitleid. Möchte diese arme Kreatur in ihre Arme schließen und flüstern: »Alles wird gut.«
Doch die nölende Stimme der Kassiererin reisst sie aus ihren Gedanken und fordert sie an die Reihe. Sie bezahlt stumm und geht nach Hause.

Und auch der Penner wird nach fünf Minuten die Buchhandlung verlassen, diese trockene und warme Oase, an einem Tag, an dem der Wind gewissenlos durch die Strassen jagt und die Kälte unaufhaltsam durch seine vom Schmutz gezeichnete Cordhose dringt.
Genauso unbemerkt, wie er gekommen war.

Wack Wolfskins

Dieser Winter ist endlich mal wieder als ein solcher zu bezeichnen. Leider erfolgen dadurch die obligatorischen Gassi-Gänge mit Paul, dem Hund, mitunter nah an der Schmerzgrenze: Meine Winterjacke – einst günstig erstanden in belgischen Küsten-Gestaden – segnet so langsam das Zeitliche und kann dem klirrenden Frost kaum mehr Widerstand leisten.

Was liegt also näher, als endlich robuste und qualitativ hochwertige Marken-Outdoor-Kluft mit allem Zipp und Zapp zu kaufen? So mit Gore-Tex, Hy-Vent und anverwandtem Schnickschnack – so richtige Drei-Lagen-Panzer, die selbst den Kessel in Stalingrad in einen Frühlingstag verwandelt hätten?

Genau. Auf nach Köln. Da gibt’s ja diesen Globetrotter-Mega-Store. So was hat unser verschnarchter Weiler nicht zu bieten. Hier gibt’s nicht mal einen Bäcker. Nur einen Zigarettenautomaten. Leider ohne Roth Händle.

Wäre ich noch Städter, wäre ich natürlich artgerecht mit einem SUV bei diesem Outdoor-Mekka vorgefahren. Doch ich bin seit fast fünf Jahren Landei und komme mit der Bahn. Das ist C02-neutral – hat aber den großen Nachteil, dass sich diverse Karnevals-Schunkel-Kracher in meinem Gehörgang verfangen haben: Diese Siegener Jecken, die breitbeinig sämtliche Sitzplätze des Regionalzugs okkupieren, sind echt eine Klasse für sich und bieten darüberhinaus Stoff für unzählige weitere Stories. Demnächst sicher mehr.

Egal. Ich brauche eine neue Jacke. Warm soll sie sein. Regen abhalten. Und auch Pauls Gezerre standhalten. Shoppen. In Köln. Samstag nachmittags. Geht halt nicht anders: Die Woche ist geblockt durch einen Job, der zu viel Zeit frisst und zu wenig abwirft.

Ich betrete schließlich den Outdoor-Tempel. Er ist gaskammervoll. Samstag Nachmittag – was habe ich erwartet? Sofort umströmt mich der unwiderstehliche Flair urbaner Konsum-Geilheit. Wohin ich auch blicke: Lauter Menschen, die hoffen, glauben, meinen, einer immer feindlicheren Umwelt nur mit der geeigneten Marken-Bekleidung begegnen zu müssen, um so ihre Schein-Souveränität bewahren zu können.

Sieh an: Vornehmlich sind es Kleinfamilien – Papis und Mamis, erfolgreich im Beruf und endlich auch familiär gesettled dank geplantem und genau terminiertem Kaiserschnitt-Wunschkind Ende Dreißig. Man gönnt sich ja sonst nichts. Mich umschwirren Bionade-Nazis aus dem Belgischen und dem Agnes-Viertel. Kreativ involviert und immer am Puls der Zeit. Die Luft ist regelrecht geschwängert mit political correctness. Wir kaufen ja deutsch. Traditionsware aus hiesiger Produktion („Hey, Jack Wolfskin sitzt im Taunus!“). Dass dieser Rotz in der sogenannten Volksrepublik China gefertigt wird, genau wie das Zeug beim Aldi, tut ja nichts zur Sache. Was zählt, ist die und das richtige Etiquette. Wir sind aufgeklärt. Kaufen Bio. Erziehen unsere Bälger bilingual. Der Wettbewerb, weißt du? Chancen, Zukunft, Elite. Der ganze neoliberale Scheiß.

Neben all dem ach so aufgeklärten Bewußtsein ist die Globetrotter-Luft aber auch von etwas anderem geschwängert: Gediegenem Geschmacksstalinismus. Und Angst. Einer Furcht vor der eigenen Meinung, einer Haltung, welcher auch immer. Jener kalten Angst vor Fehlern. In anderem Zusammenhang nannte man dies: Gleichschaltung. Ikea mit seinem penetranten Geduze hat ja bereits bei der Wohnraumgestaltung gewonnen.

Sie kaufen maßlos überteuerte Outdoor-Kleidung, rufen laut „Hach! Ist die Luft hier gut!“, wenn sie mit ihrem Allrad-Audi die unschuldige Sieg penetrieren, fürchten im selben Moment, dass ihre betüttelten Blagen mit ihren teuren Klamotten in den unhygienischen Matsch stürzen und freuen sich insgeheim bereits auf den fair gehandelten Kräutertee, der sie erwartet, wenn sie frischluftbetankt in ihre ererbte und klimatisierte Eigentumswohnung zurückkehren.

Nach fünf Minuten verlasse ich diesen Outdoor-Tempel. Die Jacke für den Winter werde ich beim örtlichen Raiffeisen-Markt kaufen. Die haben äußert robuste Ware am Start. Die hiesigen Bauern decken sich dort kleidungstechnisch ein. Wenn sie auf ihrem Trecker sitzen, sehen sie nicht so aus, als würden sie frieren – ihre Kinder klettern obendrein in Obstbäume und benötigen dazu keine Grundkenntnisse in Business-Chinesisch. Und statt korrektem Kräutertee ziehen sie sich nach getaner Feldarbeit ein gepflegtes Hachenburger Pils rein. Das ist ein Bier aus garantiert heimischer Produktion, ehrlich bis ins Mark und bar jedes Chichis. Tannenzäpfle gibt’s hier nicht. Gott sei Dank.

Ein singender Spiegel in der Bahn

© Peter Kreder (http://www.flickr.com/photos/peterkreder/457364993) CC-BY-NC-SALinie 16, Rodenkirchen Richtung Niehl. Ein junger Amerikaner, Jake ist sein Name, spielt in der Bahn Gitarre. Sehr laut und voller Inbrunst. Er singt ein Lied, das vom „Fucking War Business“ handelt. Ausser seiner Musik ist nichts zu hören. Niemand spricht. Keiner ermahnt den Sänger, doch endlich mit dem schrägen Geklampfe aufzuhören. Eine diffuse Befangenheit ist spürbar.
Jake spielt und blickt dabei immer wieder offen in die Runde. Augenscheinlich sucht er ein Gespräch. Keiner gibt ihm diese Chance. Jake lässt eine passable Kadenz erklingen, hält dann inne und lässt seine Augen über die Gesichter der stummen Mitfahrer gleiten. Er grinst, ganz Prince Charming.

— Don’t worry. I don’t want your money. I just play for your hearts.

Er meint es gut. Erntet aber weder Lächeln noch Spott. Nichts.

— I don’t understand you germans. You have money. You have jobs. But you look so bored.

Schweigen in der Bahn.

— Maybe you have fear? Fear of: what? Maybe … death?

Das Schweigen wird lauter.

Jake blickt erneut von Gesicht zu Gesicht. Die Getroffenen schauen verstohlen nach draußen, als gäbe es dort etwas zu sehen – dabei sind die Straßen lange schon in tiefe Dunkelheit getaucht. Ein junges Paar sitzt händchenhaltend nebeneinander. Beide starren auf irgendeinen Punkt in der Ferne, sie versuchen so zu tun, als würden dort gerade die Lottozahlen der nächsten Woche angezeigt. Jake schüttelt den Kopf.

— You don’t talk to each other. Either to me. No smile. You look so bored. Like you were saying: „Please, Lord, give me death!“

Nur noch das Geräusch der rumpelnden Räder ist zu hören. Nach einem Moment greift Jake wieder in die Saiten und improvisiert aus dem Stehgreif ein Lied. Ein Lied über die Deutschen. Dass sie ja so verdammt große Denker hätten. Pause.

— Yeah, maybe you think too much. And enjoy too little.

Die Bahn legt sich am Barbarossaplatz mächtig in die Kurve. Jake deutet nach draußen:

— I don’t believe Adolf Hitler is dead. There are so many Nazis out there.

Etwas unsanft kommt die Bahn an der Haltestelle zum Stehen, Jake trällert unbeirrt weiter sein etwas anderes Deutschlandlied. Ein schnieker Businessman steigt hinzu – es ist recht voll, er ist gezwungen, seine sichtbar teure Aktentasche neben Jakes Gitarrenkoffer zu drappieren. Jake blickt ihn an.

— You have a Mercedes?

Der Businessman stutzt kurz. Er hat.

— Well, I don’t have a Mercedes. Mercedes are shit in ten years. Why? I have a horse. And it doesn’t eat oil.

Die Bahn gleitet quietschend hinab in die Unterwelt.
Am Neumarkt steigt Jake schließlich aus – „in the middle of the city“ wie er alle ironisch wissen lässt. Die Türen schliessen sich, Jake steht reglos auf dem Bahnsteig, hat sich auf seine Gitarre gestützt. Er sieht aus wie Johnny Depp in »Arizona Dream«. Die Bahn fährt an und entschwindet erneut im dunklen Tunnel.

Einige der  Passagiere blicken sich verstohlen an. Sie lächeln vorsichtig. Als täten sie dies zum ersten Mal.

Es braucht offenbar mehr Jakes auf dieser Welt.

Zwischen Esoterik & Psychologie

Heute war er in Köln: Phlippe Djian, Held meiner Jugend. »Verraten und verkauft«, »Rückgrat«, »Pas de deux«, »Matador« — so heissen einige seiner Bücher. Ich verschlang sie damals. Und wollte sie nie zuende lesen, weil ich wusste: Ich werde wieder weinen. Nicht, weil seine Bücher traurig sind. Zum Ende hin entwickeln seine Romane oft ein unbeschreibliches Cresendo, das mir auf den letzten Seiten stets den Atem nahm. Bei so viel Talent, Timing und Tonalität können einem wirklich die Tränen kommen. Freudentränen. Die Lektüre von Djians Büchern war mir Lektion. In vielerlei Hinsicht.

Nun also: Lesung in Köln. Seine Doggy-Bag-Soap will auch in Deutschland an den Mann gebracht werden. Djians Romane habe ich seit zehn Jahren nicht mehr verfolgt. Schon »Heisser Herbst« sagte mir nichts mehr. Andere Autoren fanden mich. Vielleicht ist es eine Frage des Alters. Oder des eigenen Weges. Passiert nun mal. Da ich jedoch sowieso zu dieser Zeit werktäglich am Bahnhof rumhänge, wollte ich mir ein Wiedersehen nach zehn Jahren nicht entgehen lassen.

Er war noch nicht anwesend, als ich die Buchhandlung betrat. Die Plätze jedoch, in der oberen Etage, am Ort der Lesung, waren schon reich bevölkert. Lauter Menschen in meinem Alter. Keine Jugendlichen, keine  Studenten, keine neue Generation der Leserschaft. Ein sattes Publikum, irgendwie. Auf der Suche nach: den Wurzeln? Wer weiss.

Schließlich kam er, gerade mal fünf Minuten zu spät. Sechzig ist er dieses Jahr geworden. Langsam fuhr er die Rolltreppe hoch, sein schütteres Haupthaar: kaschiert durch eine lässige Schiebermütze, die Kleidung: wie ein Germanistik-Student im vierten Semester. Alt ist er geworden. Jung will er bleiben. Shake hands hier und dort, er nimmt auf dem Podium Platz. Flankiert vom Moderator/Übersetzer Stefan Barmann. Dieser eröffnet nuschelnd die Lesung, sondert gelangweilt banales Blabla von sich, seine erste Frage an den Autor goutiert dieser mit einem süffisant-souveränen »Ich verstehe die Frage nicht«.

Erst jetzt bemerkte ich, dass Djian zwischen den Regalreihen »Esoterik« und »Psychologie« drappiert wurde.

Ich verließ diesen unwürdigen Ort — im Wissen: das, was folgt, wird keine Bedeutung mehr haben. Auf dem Weg zum Bahnsteig wendete ich mich jedoch noch einmal um und schaute zurück, nach oben, in die erste Etage der verglasten Buchhandlung. Dort saß er also, der Held der Jugend, mit dem Rücken zu mir. Und versteckte seine Glatze unter einer Mütze und machte gute Miene zu irgendeinem Spiel, das mich nicht mehr interessiert.

Auch Idole haben eine Halbwertszeit. Ich möchte sie lieber in guter Erinnerung behalten.

Meide die Orte, an denen über Bücher gesprochen wird. Höre auf niemanden. Wenn sich jemand über deine Schulter beugt, spring auf und schlag ihm ins Gesicht. Schwing keine Reden über deine Arbeit, es gibt nichts dazu zu sagen. Frag dich nicht, warum und für wen du schreibst, sondern denke, dass jeder deiner Sätze der letzte sein könnte.

— Phlippe Djian: Pas de deux (1994)

Köln. Hodenkneterstadt.

Wir lebten inzwischen am Rande des Eigelsteins, einer türkischen Enklave in der Nordstadt. Von den Bahngleisen, auf denen der Thalys mehrmals täglich zum Gare Du Nord rauscht, trennte uns bloß ein Häuserzug. Halbe Tage konnte ich nun nicht mehr in Cafés verbringen, ich beliess es meist auf ein, zwei Espresso. Länger hätte ich auch nicht mehr ertragen. Das unaufhörliche Dröhnen der Stadt begann an meinen Nerven zu zehren. Schon der Gang um’s Eck, zu Ali, meinem Kioskmann, wurde zur Qual. Meinen Platz auf dem Gehweg musste ich mir immer öfter mit spitzem Ellbogen und abgewendetem Blick ertrotzen. Schleichend verwandelte sich der gesamte Alltag in Kampf. Gestank penetrierte plötzlich ungefragt die Nase – und die Ohren wurden malträtiert von jaulendem Türk-Pop, der mich stets an Sänger denken ließ, denen ein unsichtbarer Derwisch die Hoden knetet. Furchtbare Musik. Dabei bin ich wirklich offen, was Musik betrifft: Es gibt so viele unterschiedliche Stile und Richtungen, die mich wahrhaftig bei den Eiern packen. Doch der Zugang zu orientalischen Kompositionen wird sich mir wohl nie erschliessen. Er wird auch nicht erleichtert durch ein infernalisch lautes »Ayshe« aus einem tiefergelegtem 3er-BMW, der unter meinem Fenster dahin wummert – gerade in einem Moment, wo ich Zuflucht suche in den leisen Klängen von Sigur Ròs.