Duralex

Plötzlich weinte er. Still und fast nicht wahrnehmbar, eher ein leises Wimmern. Ihr war das unangenehm. Sie wollte im Grunde doch nur, dass er sie endlich in Ruhe lässt und aufhört, ihr mit seinem komischen Grinsen auf die Nerven zu gehen. Sie griff in ihre Tasche und suchte nach einem Kleenex. Ein klammes Gefühl kroch ihr den Rücken rauf. Jenes Gefühl, das sie eigentlich nie wieder spüren wollte.

Am Nachmittag hatte sie beschlossen, dass ihr Leben sich ändern muss. Hier drehte sie sich zu lange schon im Kreis. Sie würde diese Stadt, die ihr bei jeder Gelegenheit Steine hinterher schmiss, endlich verlassen. Sie wusste, sie muss weg von hier, sie wollte nach Osten, dorthin, wo die Sonne aufgeht. Dieser Entschluss machte sie glücklich, eine angenehme Ruhe breitete sich in ihr aus.

Ein Grund zum Feiern. Sie wollte darauf einen Trinken gehen, nur kurz, ins Elektra, ihrer Lieblingskneipe zwei Strassen weiter. Auch, um sich innerlich zu verabschieden, ganz sanft. Als Anfang.

Sie hatte den zweiten Pernod bei Waltraud bestellt, als ihr dieser Junge am anderen Ende der Theke auffiel. Er musste schon länger da gestanden haben, sein Deckel zierte ein ansehnlicher Kranz. Ihr war er beim Reinkommen gar nicht aufgefallen und auch sonst hatte sie ihn hier noch nie gesehen. Er war sturzbetrunken. Sie spürte, dass er sie eine ganze Weile schon anstarrte. Vorsichtig erwiderte sie seinen Blick. Leichter Ekel kam in ihr hoch, Kerle wie ihn konnte sie nicht leiden. Noch nie. Doch er verstand ihren Blick als Aufforderung. Ehe sie begriff, wie es passieren konnte, stand er bei ihr und lächelte sie an, von unten, aus seinem Milchbartgesicht.

– Hast du mal ’ne Zigarette?

Er riss sich sichtlich zusammen, der Alkoholpegel in seinen Adern war dermaßen hoch, dass er Mühe hatte, seine flatternden Augen zu kontrollieren. Wortlos hielt sie ihm ihre Schachtel hin, mit zittrigen Fingern fischte er eine Kippe heraus und brauchte drei Anläufe, sie zwischen seine Lippen zu stecken.

Warum gerade jetzt, warum gerade ich, dachte sie und bemerkte seinen fragenden Blick von der Seite.

Er wartete auf Feuer. Leicht genervt riss sie ein Streichholz an und hielt es ihm hin.
Waltraud kam, servierte den Pernod und warf ihr einen schnellen, mitfühlenden Blick zu.

– Ich hau ab aus dieser Stadt. Es wird Zeit.

Waltraud nickte beiläufig und verschwand in einem Nebenraum. Sie wußte nicht, was Waltraud von ihrer Entscheidung hielt. Aber es war ihr inzwischen auch egal.

– Nimmst du mich mit?

Der Typ neben ihr kratzte sich nervös am Flaum unter der Lippe.
Keine zwanzig. Und schon fertig und kaputt, ging ihr durch den Kopf. Sie empfand kein Mitleid.

– Nein, sagte sie, dich nehm‘ ich bestimmt nicht mit. Außerdem hast du ja keine Ahnung, wo ich hin will.

Ohne zu fragen griff er nach ihrem Pernod. Sie riss ihm das Glas im letzen Moment wieder aus den Fingern.

– Das ist meiner, okay?

Er zuckte mit der Schulter, versuchte entwaffnend zu lächeln und sah dabei aus, wie ein Vierklässler, den man gerade beim Rauchen erwischt. Sie hatte sich so gut gefühlt heute, so befreit. Und das wollte sie sich auf keinen Fall versauen lassen. Leute, wie er – Schnorrer, Neurotiker – hatten ihr zu lange schon den Blick fürs Wesentliche verbaut. In dieser Stadt wimmelte es von ihnen und ihr Entschluss, hier abzuhauen, war goldrichtig, das wußte sie jetzt.

– Kann ich bei dir schlafen?, fragte er ohne mit der Wimper zu Zucken und sie verschluckte sich fast.

Eine gesalzene Replik lag ihr schon auf der Zunge, doch sie schwieg und durchbohrte ihn nur mit den Augen. Auf dem Weg in die Kneipe hatte sie sich vorgenommen, ihre Energien ab sofort besser einzuteilen. Nicht auf seine unverschämte Frage einzugehen erschien ihr als beste praktische Umsetzung des neuen Vorsatzes. Einen kurzen Moment war sie richtig stolz auf sich.

– Hast bestimmt ’ne große Wohnung, murmelte er ohne Erklärung.

– Korrekt. Ich fahr mit Rollschuhen von der Küche ins Klo. Aber fürs Bad nehm‘ ich das Rad. Ist schneller, antwortete sie etwas zu schroff und ärgerte sich sofort, wieder in alte Gewohnheiten zurückgefallen zu sein.

Der Typ neben ihr pfiff voller Anerkennung durch die Zähne, versuchte es zumindest, es hörte sich an, als ließe jemand die Luft aus einem Ballon. Dann spürte sie seine Hand auf ihrem Unterarm, sie war nass vor kaltem Schweiß. Sein Blick suchte ihre Augen, das wußte sie, aber sie schaute nicht zurück.

– Du bist ’ne tolle Frau, sagte er leise.

Weder übertrieben charmant noch betont beiläufig. Einfach so. Sie nahm einen grossen Schluck Pernod und ging im Kopf all die Sachen durch, die schon bald zu erledigen waren. Sie riss aus ihren Gedanken als sie seinen Kopf an ihrer Schulter spürte. Sein Haar roch streng. Wie eine alte Frau, die der Zivi vergessen hat. Mit einem Ruck entzog sie sich, er konnte sich gerade noch am Tresen festhalten. Aber er lächelte weiterhin tapfer, wie schon die ganze Zeit. Solch ein Gesichtsausdruck war ihr völlig fremd. Es machte sie unruhig.

– Ich bin nicht von hier, musst du wissen, sagte er, als handle es sich dabei um eine Offenbarung.

Erst jetzt bemerkte sie seinen leichten Akzent. Schwäbisch, eindeutig. Sie atmete tief durch und überlegte, wie sie aus dieser Situation wieder rauskommen könnte. Sie wollte doch nur ihre Ruhe, stumm ein, zwei Gläser kippen. Wenigstens einmal. Wenigstens jetzt. Gerade jetzt. Sie schob ihm den Rest vom Pernod rüber und versuchte sich auf die Musik zu konzentrieren, die im Hintergrund lief. Das Stück kannte sie, es hatte eine ganz einfache Melodie, wie bei einem Kinderlied, kleine Terz, große Terz. Ihr fiel der Titel nicht ein und das machte sie unruhig. Er nahm einen Schluck von ihrem Glas. Ganz so, als wäre es schon immer seins gewesen. Er war tatsächlich sturzbetrunken, kein Zweifel. Sie fragte sich, ob Waltraud den Ehrenkodex vergessen hat: Gäste, die eindeutig genug haben, bekommen nichts mehr. So kannte sie es von früher. Als sie selbst noch auf der anderen Seite des Tresens stand. Wieder bemerkte sie seinen Blick, wie er auf ihr haftete. Unangenehm. Sein blödes Grinsen machte sie langsam wahnsinnig. Dann rutschte er ab und knallte mit seinem Kopf unten gegen ihren Hocker.

– Grossartig, murmelte sie leise und zog ihn schnell wieder hoch.

Er lächelte weiter als wäre nichts geschehen. Nach unendlichen Sekunden hatte er es geschafft, wieder auf seinem Hocker Platz zu nehmen. Wie er jetzt so da saß, leicht schwankend, dieser Milchbart, seine öligen Haare ins Gesicht gefallen – das erinnerte sie an jemanden. Ihr fiel schließlich ein, an wen: an ihren jüngeren Bruder. Drei Jahre hatte sie ihn nicht mehr gesehen. Mindestens. Dieser Gedanke ließ sie ungewohnt erschrecken. Er kippte die letzen Tropfen Pernod in sich rein, dabei entglitt ihm das Glas aus den Fingern, fiel zu Boden und zersplitterte in Tausend Teile.

– Scheiß Duralexgläser.

Sie beugte sich über die Theke zu Waltraud.

– Schlimmer als Autoglas. Aber du wolltest ja nicht hören.

Waltraud seufzte, kramte einen Handfeger hervor und kam vor die Theke. Er aber hatte offenbar sein kleines Malheur gar nicht mitbekommen. Mit leeren Blick starrte er auf die Digitalanzeige des CD-Players hinten im Regal.

Wie alt der wohl ist? Achtzehn? Höchstens, dachte sie und rückte mit dem Hocker ein Stück zur Seite, damit Waltraud die Scherben zusammen kehren konnte.

– Hey, ist wohl besser, du gehst jetzt nach Hause, sagte sie betont freundlich in seine Richtung, sonst macht sich deine Mama noch Sorgen.

Die CD war zu ende, mit leisem Surren fuhr der Laser in seine Ausgangsposition zurück. Mist, wie hieß dieses Stück noch mal? Ihr wollte es partout nicht einfallen. Ich werd sie wohl fragen müssen, dachte sie und beobachte Waltraud – sie war mit den Scherben fast fertig.

– Sie kann sich keine Sorgen mehr machen, weißt du?, sagte er genau in jenem Moment, als ihr entfallen war, dass sie ihm diesen wohl gemeinten Tip gegeben hat.

Sie blickte irritiert in seine Richtung, sah, dass er immer noch stur auf die rote Anzeige des CD-Players starrte, als hoffe er, die Ziffern würden erneut zu tanzen beginnen und es dauerte ewig, bis sie bemerkte, dass ein leichtes Zucken durch seinen Körper ging. Sie erkannte nicht gleich, was mit ihm los war und hielt es anfangs für einer Art motorischen Tick. Dann wurde ihr klar, dass er weinte. Kaum merklich, aber er weinte.

Scheiße, dachte sie, warum immer ich?
Schweigend zog sie ein Kleenex aus der Tasche und ihr war klar, dass es nicht bei diesem einen bleiben würde.

Our day will come

Während so genannte Künstler irgendwann einmal so ein bisschen den Arsch hoch und die Zähne auseinander gekriegt und dadurch einem pseudo-engagierten Mitläufer-Mob ihre echt total unvergessliche Gruppen-Experience in der Kölner Südstadt bereitet haben (von denen einige Genossen sicher noch ihren Enkel erzählen würden, hätten sie nicht bereits ihre Fortpflanzungsfähigkeit sozial-verantwortlich wegtherapiert) – ich meine so Bundesverdienstkreuz-bestückte Künstler-Typen wie Wolfgang „Dylan“ Niedecken – einer, der einst auf dicke Hose machte („Stollwerk!! Bollwerk!!“) und erst kürzlich dem Boulevardblatt „Express“ sein jugendliches Missbrauchstrauma offenbarte (offenbar, um auch etwas zur Missbrauchsdebatte im katholischen Puff beizutragen) – gibt es gottseidank inzwischen eine neue Generation von politisch aktiven Künstlern, die wahrhaft Eier in der Hose haben und Statements abliefern, die sich wirklich gewaschen haben.

Zum Beispiel die tamilisch-britische Sängerin Mathangi Arulpragasam – besser bekannt als M.I.A. Zusammen mit dem Regisseur Romain Gavras lieferte sie vor ein paar Tagen einen als Video getarnten Kurzfilm zu ihrem neuen Song »Born free« ab, der aufgrund seiner (vordergründig) verstörenden und unerträglichen Gewalt umgehend von YouTube „zensiert“ wurde (es ist ein Altersnachweis erforderlich, um den Film auf dieser Plattform sehen zu können).

In drastischen – immer aber allegorisch zu verstehenden Bildern – wird darin etwas konsequent zuende gedacht (und gezeigt!), das möglicherweise schon bald real werden könnte, beziehungsweise in viel subtilerer Weise bereits tagtäglich passiert: Neo-faschistische, rassistische Hetzjadgen auf Andersdenkende, in diesem speziellen Fall: Rothaarige. Systemimmanente Gewalt.

Sicher war die Zensur-Keule durch einen Giganten wie Youtube ein Stück weit im Vorfeld mit einkalkuliert – so etwas erzeugt im Netz ja schnell einen irren Buzz, sprich: Aufmerksamkeit.

Zurecht. Es kommt nicht oft vor, dass Künstler (sowohl M.I.A als auch Gavras) so eindeutig wie mutig Stellung beziehen, ihre Haltung ungeschminkt offenbaren und das Vehikel Pop-Kultur benutzen, um Ideen, Visionen und auch Ängste zu formulieren. Für den einen oder anderen ist dieses Video sicher shocking oder einfach nur exzessiv übertrieben. Mag sein. Das sind aber genau die Leute, die bereits lobotomiert und gebrainwashed im spektakulärem Konsumnirvana einbetoniert sind.

Alle anderen atmen erstmal tief durch, dann tief aus: Endlich!
Endlich wagt mal jemand einen Aufbruch!
Dieser Film setzt einerseits einen neuen Maßstab im Bereich Musikvideos (der zu lange schon zur verkaufsfördernden Maßnahme degeneriert ist), andererseits betritt Kunst wieder jenen Sektor, der bisher von tumben, konsequenzlosen und vordergründig merkantil orientierten Tabubrüchen überzogen war:

Ich meine natürlich gesellschaftliche Relevanz.

»Born free« macht wütend. Extrem wütend. Es sind nicht nur die Bilder, es ist insbesondere die Musik, die in einem aggressiven Electro-Punk-Staccato die Synapsen neu verdrahtet.

Wut ist das, was gegenwärtig am meisten fehlt. Gleichgültigkeit und Lethargie, wohin man auch blickt. Doch: Wut macht auch Mut, wenn richtig kanalisiert.

Genau darum geht’s: Nicht immer nur schlucken, ducken und vermeintliche Konkurrenten abfucken, um die eigene, kleine Scholle zu retten. Nein, endlich wirklich mal den Arsch hoch kriegen und sein vertrocknetes Maul aufmachen. Möglicherweise auch ein paar Schläge in die Fresse kriegen. Das ist Teil des Spiels.

Frage: Ist das alles noch Kunst?
Ja. Und zwar in Bestform. Wahre Kunst darf das nicht nur, sie muss.
Your day will come, artist. Thank you.
 
 
M.I.A – Born Free (Official Video, uncut)

Lesen. Aufgelesen.

Es ist ihr Rock, der mir zuerst ins Auge fällt – so ein Jeans-Rock, der fast bis zu den Knöcheln reicht, in verblichenem Indigo und aus einem Stoff, der an Zonen-Gabis Hemd erinnert – jenes auf diesem politisch alles andere als korrekten Cover-Foto der Titanic, vor zwanzig Jahren. Sie quetscht sich mir gegenüber in den Vierer des Regionalexpress nach Köln, schlägt die Beine züchtig übereinander, berührt dabei mein Knie mit ihren flachen, farblosen Schuhen und ich entdecke dunkelgraue Strümpfe, die gefühlt bis unter ihre Achseln reichen müssen. Vom Alter her ist sie undefinierbar. Sie ist wohl so alt wie ich, ihr Äußeres jedoch lässt sie an der Grenze zum Greisenalter erscheinen. Sie meidet meinen Blick, kramt in ihrer Jute-Tasche, während ich meinen MP3-Player auf das nächste Stück skippe – LCD Soundsystem, Drunk Girls, irrer Groove – und in die Sonne blinzle. Irgendwann schaue ich wieder in ihre Richtung, weil der Schaffner im Hintergrund erscheint – und habe plötzlich die Halluzination, ein teutonisches Exemplar der Mormonen-Sekte vor mir sitzen zu haben. Und tatsächlich, wie der Teufel es will: die Frau liest in einem Buch, dass Buch ist antik und schwarz, es hat einen abgewetzten Einband – und auf dem Falzrücken steht in Sütterlin-Schrift »Die Bibel«. Ich sehe ihre Augen langsam über die Worte wandern. Sie ist etwa in der Mitte der heiligen Schrift vertieft – irgendwo zwischen Hiob und Hohelied. Sie spürt nach einem Moment offenbar meinen Blick auf sich. Wirkt überrascht, dann gehetzt. Klappt die Bibel zu, stopft sie in die Tasche, steht übereilt auf und geht wortlos in ein anderes Abteil. Ich blicke ihr nach und frage mich, ob ich möglicherweise etwas falsch gemacht haben könnte.

Sein Maleranzug ist mit lustigen Farbsprenkeln übersäht. Mit einem leisen »Uff« setzt er sich mir gegenüber auf die Sitzbank in der Linie 16 Richtung Süden. Sein Gesicht ziert ein Dreitagebart, an den Füßen: die für seinen Job wohl obligatorischen Arbeitsschuhe. Sie sind verstaubt – genau wie sein Rucksack, den er sich nun auf den Schoß wuchtet. Ein neuer Tag auf irgendeiner Baustelle wartet wohl auf ihn. Nach einem Moment beginnt er in seinem Rucksack zu kramen – was kommt jetzt? Kölsch, Express? – nein, er fischt ein vergilbtes DTV-Taschenbuch heraus, zieht sehr sorgsam den Reißverschluss des Rucksacks zu und vertieft sich in die Lektüre. Das Cover des Buches kommt mir bekannt vor. Neugierig schaue ich genauer hin und entdeckte, dass es »Haben oder Sein« von Erich Fromm ist. Ich versuche in den Furchen seines Gesichts eine Erklärung dafür zu finden. Nichts. Ein ganz normaler Maler. Hinterm Barbarossaplatz streifen Sonnenstrahlen sanft seine Wangen. Und ich frage mich, ob nicht doch noch Grund zur Hoffnung besteht.

Er macht bestimmt in Marketing, dieser gegelte Typ im Casual-Business-Dress – erster Hemdknopf offen unter seinem Boss-Anzug – er steht breitbeinig im Restsonnenlicht am Nordwestausgang des Kölner Hauptbahnhofs, unweit der Junkie-Notstation, und schaufelt gelangweilt gebratene Nudeln aus dem Karton in seinen Mund – sie sind ausschließlich dekoriert mit leichtem Gemüse, sanft gedünstet, gesund. Sein Blick schweift weltmännisch über den tristen Vorplatz, wo es eigentlich nichts zu sehen gibt – die Junkies nahe des Bahnhofeingangs übersieht er dabei bewusst. Ihr Äußeres ist ja wenig appetitanregend. Ich stehe etwas abseits neben einer der großen Flügeltüren aus gebürstetem Metall, neben einem qualmenden Aschenbecher und rauche meine letzte Zigarette in dieser Domstadt, bevor ich in den Zug Richtung Provinz steige. Mit einer lässigen Geste drückt der Casual-Business-Mann seine Gabel in jenen Karton, den asiatische Schriftzeichen zieren. Ich habe keine Ahnung, was sie bedeuten. Vielleicht: „Dumme Deutsche versprechen gute Geschäfte“. Mit dynamischen Schritten kommt er mir entgegen, bleibt vor der Mülltonne neben dem Aschenbescher stehen und lässt den Karton sanft in den Abfallsack plumpsen. Ich erkenne, dass er mindestens die Hälfte der Mahlzeit nicht gegessen hat. Er wischt sich schnell mit einer Papierserviette über den Mund, greift innen ins Sakko, fischt ein iPhone raus und beginnt offensiv damit zu hantieren. Er ist stolz auf sein schickes Gadget und bedacht, dass auch jeder es sieht. Einer der Junkies, die nur ein paar Meter von uns stehen, blickt tatsächlich interessiert herüber. Dann kommt er auf uns zu. Aber nicht dem Mobiltelefon gilt sein Interesse, sondern dem Karton mit asiastischen Zeichen in der Mülltüte. Ohne groß zu zögern greift er in die Tonne, holt den Nudel-Karton aus dem Dreck, klappt den Deckel auf, fummelt die Gabel raus und beginnt, die Reste der Marketing-Menschen-Mahlzeit genüsslich zu essen.

– Ich habe ’nen Mordshunger, Alter!

Er schaut mich entwaffnend an, während er schlürfend die glitschigen Nudeln in seinen Mund zieht. Der Casual-Business-Mann macht derweil auf Autist. Oder ist vielleicht sogar einer. Die ganze Aktion hat er sehr wohl mitbekommen. Vielleicht ist auch die App, mit der er gerade rumspielt, nur so schweineinteressant. Es ist mir egal.
Ich frage den Junkie, aus dessen rotem Gesicht nun schmatzende Geräusche tönen, ob ich ihm eine Kippe drehen soll – quasi als Nachtisch. Er grinst und nickt hocherfreut.

Der neue Reichtum der Kommunikation

Beim täglichen Durchforsten der Feeds und Tweets kommen mir diese – inzwischen über 20 Jahre alten – Sätze plötzlich wieder sehr brandaktuell vor:

Die inhaltsleere Diskussion über das Spektakel, das heißt über das, was die Eigner dieser Welt treiben, wird so durch das Spektakel selber organisiert: man legt Nachdruck auf die enormen Mittel des Spektakels, um nichts über deren umfassende Verwendung zu sagen. So wird der Bezeichnung Spektakel oft die des Mediensektors vorgezogen. Damit will man ein einfaches Instrument bezeichnen, eine Art öffentlichen Dienstleistungsbetrieb, der mit unparteiischen »Professionalismus« den neuen Reichtum der Kommunikation aller mittels Mass Media verwaltet, der Kommunikation, die es endlich zur unilateralen Reinheit gebracht hat, in der sich selig die bereits getroffene Entscheidung bewundern läßt. Kommuniziert werden Befehle, und in bestem Einklang damit sind die, die sie gegeben haben, und auch die, die sagen werden, was sie davon halten.

Guy Debord: Kommentare zur Gesellschaft des Spektakels (1967,1988)

Big buzz for the brain-dead – 2.0. Wie gehabt.

Keine Cojones. Nirgends.

Wir haben immer noch keine neue APO. Wir haben eine gemachte Mitte, die nur den Ellbogen kennt. Wo jeder versucht, irgendwie zu überleben. Und Ethos erodiert.

»Schlechtes Benehmen halten die Leute doch nur deswegen für eine Art Vorrecht, weil keiner ihnen aufs Maul haut.«

— O-Ton Kinksi 1979 in einem Stern-Interview.

Gerade jetzt, nach über 30 Jahren, wieder sehr treffend. Doch stattdessen überall: Political correctness. Haltung war gestern. Niemand macht das Maul auf. Und spricht Klartext.

»Ich bin nicht der offizielle Kirchenjesus, der unter Polizisten, Bankiers, Richtern, Henkern, Offizieren, Kirchenbossen, Politikern und ähnlichen Vertretern der Macht geduldet wird. Ich bin nicht euer Superstar.«

Dies brüllt Kinski seinem Publikum 1971 zu. Buhrufe. Widerstand regt sich. Kinski wütet weiter:

»Haltet die Schnauze!«

Ein Zuschauer kommt auf die Bühne und wirft ein, dass Jesus damals sicherlich nicht gesagt habe, „Halt deine Schnauze“. Kinski wütend:

»Nein, er hat nicht gesagt »Haltet die Schnauze«! – Er hat eine Peitsche genommen und ihm in die Fresse gehauen! Das hat er gemacht! – Du dumme Sau!«

Wie ich ihn vermisse.
 
 
Klaus Kinski und das scheiß Gesindel

Sehnsucht, nach dem »Davor«

Sie steht an der Kasse der Buchhandlung und wartet, dass sie an die Reihe kommt. Genervt ist sie: Sie will endlich ihr Buch bezahlen und nach Hause. Einkaufen ist Stress für sie. Nahkampf – alle anderen sind ihre Feinde. Sie stehen ihr im Weg, rempeln sie an, versperren den Blick auf die Auslage. Stören. Stinken. Ihre Nase nimmt plötzlich einen nicht einzuordnenden Geruch wahr. Der Geruch kommt von hinten. Sie weiß nicht, ob es unangenehm oder vielleicht sogar doch angenehm riecht. Sie denkt kurz nach, kramt in ihrer olfaktorischen Erinnerungskiste. Und kommt schließlich drauf: Alter Urin.

Sie wendet ihren Blick vorsichtig nach hinten und entdeckt einen Penner, der dicht hinter ihr steht und in dem Moment, wo sich ihre Blicke verschämt treffen, damit aufhört, mit halbgeschlossenen Augen den Duft ihrer Haare in sich aufzusaugen.

Er schaut zu Boden und dreht sich um. Geht schnurstarks auf eine Regalreihe zu, in denen Bildbände von fremden, fernen und heißen Ländern angeboten werden. Sie studiert seine äußere Erscheinung: Er hat schütteres, schulterlanges Haar, einen halbwegs gepflegten Vollbart. Seine grüne Cordhose ist vom Schmutz gezeichnet, sein Steppmantel hat blasse Flecken am Saum. Würde sie nur flüchtig hinschauen, sie würde in ihren Augenwinkeln bloß einen leicht heruntergekommenen Mitvierziger vor einem Buchregal wahrnehmen. Leicht heruntergekommen, okay, aber einer von ihnen. Doch sie sieht seine Hände. Seine Finger, die sich verkrampft zu einer Faust ballen, die kleinen Finger eigentümlich abgespreizt. Seine verschmutzen, eingerissen Fingernägel, unter denen sich der Dreck der Schildergasse wie ein Mal eingebrannt hat. Sieht, daß er zittert. Sieht seinen Blick auf die prächtigen Buchcover: Provence, Kenia, Kanada. Seine glasigen Augen, die über die Bücher huschen. So, als wolle er wirklich eines dieser teuren Bücher erstehen wollen.
 Sie beginnt zu phantasieren. Imaginiert sein Leben. Vielleicht war er damals in einem dieser fernen Länder? Damals, bevor ihm das Schicksal einen Strich durch die Rechnung gemacht hatte. Bevor er seine Frau, seinen Job und seine Wohnung verlor? Hat er Sehnsucht? Nach dem damals, dem davor? 
Sie empfindet auf einmal, ihr unerklärlich, so etwas wie Mitleid. Möchte diese arme Kreatur in ihre Arme schließen und flüstern: »Alles wird gut.«
Doch die nölende Stimme der Kassiererin reisst sie aus ihren Gedanken und fordert sie an die Reihe. Sie bezahlt stumm und geht nach Hause.

Und auch der Penner wird nach fünf Minuten die Buchhandlung verlassen, diese trockene und warme Oase, an einem Tag, an dem der Wind gewissenlos durch die Strassen jagt und die Kälte unaufhaltsam durch seine vom Schmutz gezeichnete Cordhose dringt.
Genauso unbemerkt, wie er gekommen war.

In einem Satz: Drauf geschissen

Unheimlich heimisch

Als ich die Stätte meiner Jugend besuchte, ziellos durch die Fußgängerzone schweifte, vorbei an glühweingestählten Gestalten, vorbei an Geschäften, die es jetzt nicht mehr gab, meinen Mantel zu geschlagen bis ganz oben wegen der Kälte, da entschied ich mich, dieses Haus aufzusuchen, in dem ich knapp zwei Jahre lebte, eine Zweiraumwohnung, jene letzte Bastion von Heimat in dieser seltsam verschämten Einkaufsstadt, im Zickzack näherte ich mich meinem Ziel, etwas zögerlich, das Viertel, in dem das Haus lag, wirkte ausgestorben, ja, regelrecht unbelebt, es war doch Freitagabend, unwillkürlich fragte ich mich, wer hier überhaupt noch wohnt – die gleichen, wie vor zehn Jahren wahrscheinlich, nur älter und zynischer sind sie geworden, dachte ich und rein äußerlich hatte sich nur wenig verändert – dann stand ich unvermittelt unterhalb dieser vier Fenster, sie waren erleuchtet und glotzten dumpf in die Dunkelheit, auf diesen knorrigen Baum gegenüber, den ich immer so mochte, aus einer Fassade, schick renoviert, mit Stuck und Chinarot gestrichen, völlig anders, wie mir das Haus in Erinnerung war, als mich urplötzlich dieser Drang zum Scheißen überkam, ein Druck der übelsten Sorte, einer, von dem du weißt, du hast keine Chance, du kannst ihn nicht ignorieren, mich ergriff sofort Panik, eine Unruhe aufgrund evidenter Ausweglosigkeit, halbherzig entschied ich mich, den Rückweg zum Wagen zu wagen, am anderen Ende des Stadtzentrums war er geparkt, okay, ich musste es wenigstens versuchen, passierte im Tippelschritt diverse Trinkhallen, Griechenrestaurants und Pilsschänken, deren Ausstrahlung geradewegs stuhlfördernd wirkte, kurz spielte ich mit dem Gedanken, eines dieser Etablissements zu besuchen, um meiner Notdurft nachzukommen, doch ich war schon zu weit gegangen, die Gaststätten boten mir keine wirkliche Chance mehr, mir blieb nur die Flucht nach vorn, wo immer das auch sein sollte, egal, ich war so was von glücklich, unvermittelt diese Transformatorstation am Rande des vergammelten Spielplatzes zu entdecken, zu erkennen: ja, sie bietet, dank der umgebenden Büsche und Bäume, die best geeignete Zuflucht für mein unheiliges Ansinnen, wie ein Kinderschänder huschte ich an den Wipptieren vorbei, entschwand im knirschenden Dickicht – es war unter Null an diesem Abend – schlich hinters Häuschen, blickte nach links zu einem Wohnblock mit synchron blinkender Weihnachtsdeko, nach rechts, auf einen Parkplatz, den nur Autos zum Schlafen benutzten, öffnete hektisch meinen Mantel, hockte mich wie ein kleines Mädchen mit dem Arsch knapp über das Laub, ein fetter Furz entfuhr mir, ich hörte endlich die Scheiße auf das gefrorene Blattwerk klatschen, eine Erleichterung bar jeder Beschreibung, endlich konnte ich wieder unverkrampft durchatmen, obwohl das, was ich absonderte, penetrant nach faulen Eiern stank – es musste raus, es half ja nichts, es tat so gut – doch mein Glück währte nur kurz, mir wurde bewusst, dass ich vergessen hatte, vorher zu überlegen, wie ich meine Rosette reinigen könnte, nach vollbrachter Tat, ein kurzer Schreck durchzuckte mich, es war kein fester Stuhl, er hatte eher die Konsistenz von Kinderkacke, die ich beherzt auf die Erde des nördlichen Stadtzentrums presste, mir wurde heiß und dann wieder kalt, nein, ich wollte alles, nur nicht stundenlang mit den Resten meines Geschäfts in der Hose durch die Gegend laufen, ich grübelte, zermarterte mir fieberhaft das restentleerte Hirn – dann kam mir triumphierend in den Sinn, dass ich stets ein fusselfreies Mikrofaser-Brillenputztuch mit mir rumschleppte – für alle Fälle, nicht wahr, man weiß ja nie – also griff ich entschlossen in meine rechte Hosentasche, fingerte das Tüchlein hervor, was in meiner hockenden Position ein verdammt schwieriges Manöver war, wischte mir, so gut es mit zwanzig Quadratzentimetern Nutzfläche geht, den Arsch ab, zog zögerlich den Slip hoch, dann die Hose, knöpfte schließlich, als wäre rein gar nichts passiert, meinen stilvollen italienischen Wollmantel zu und ging zurück auf die unbelebten Strassen.

Das Brillenputztuch würde ich eh nicht mehr brauchen, kam mir in den Sinn, ich sah eh alles schon klar – sonnenklar.

Aus gegebenem Anlass: Der Sonne zu

Ja, man kann seine pubertäre Sprachlosigkeit natürlich bis zum getno raus rotzen, dabei obzöne und somit leere Bilder im Takt einer Stalinorgel abfeuern, Sex pro Seite, damit’s hoffentlich einschlägt und natürlich noch Giorgio Agambens Homo Sacer subtil einflechten und selbstverständlich nur so tun, als würde man mit dem als ob bloß kokettieren – dies alles gespeist aus dem Wunsch, die Unmöglichkeit von echten Möglichkeiten zu beklagen und die damit einhergehende Desillusion medienwirksam (und sicher auch selbstbefreiend) zu plakatieren. Dass egomane und sogenannte Kritiker dies immens becirct, ist dabei kalkulierter Kollateralschaden.
Zurück bleibt allerdings weiter nichts als: Dunkelheit.

Man kann dieses Leben aber auch einfach nur leben, es zumindest versuchen – und dabei sein Menschsein beherzt und mit allen noch verbliebenen Zähnen verteidigen, immer wieder aufstehen, wenn es einen in die Knie zwingt, trotzdem tapfer lächeln und anschließend genau davon erzählen. Jedoch leise, unprätentiös aber um so präziser. Vor allem aber: liebevoll.
Die Dunkelheit wird so natürlich auch nicht verscheucht. Zurück bleibt jedoch immer ein Funken, ein kleines, schwaches Licht.
Dafür aber eines mit einem umso nachhaltigeren und sehr sanften Fade-out.

Jörg Fauser wurde 1987 in einem echten Roadkill dahin gerafft, viel zu früh.
Gerade jetzt könnten wir ihn brauchen.

FRÜHLINGS-SZENE

Gegen Mittag ein Rettungswagen
in der Vorortstraße. Zuerst sind
immer die Kinder da. Dann
spähen die Eltern aus den Fenstern,
aus der Bäckerei, dem Blumenladen,
dem Damensalon: auf starren Fratzen
Rouge wie Schußwunden, auf verzerrten Lippen
Worte wie Blutstropfen. Sie wissen nicht

warum, aber wenn es am hellichten Tag
nebenan einen erwischt, bleibt an ihnen
ein Makel hängen, wie eine Spielschuld,
die sie nicht mehr abzahlen können,
und peinlich berührt fragen
sie sich: wird es mich auch
beim Mittagessen treffen? Wird
der Notarzt Kaugummi kauen
und werden die Kinder rufen,
kuck mal – die hat ja
ganz blaue Füße?

Sie sehen dann aus, als habe das Leben
sie nicht recht überzeugt, seine Torte,
seine Blumen, seine Dauerwellen,
seltsam! Dabei wirken die Häuser hier
so selbstbewußt wie die Autos
und der Rasen, so überzeugend
wie die Kinder und der
Rettungswagen, in den jetzt
das Bündel auf die Bahre
geschoben wird. Ein Wermutbruder

taucht plötzlich auf, winkt dem Bündel
mit seinem Flachmann und lacht: Hallo Hein,
hast du noch ein Bett frei? Der Wermutbruder
hat als einziger keine Angst vor dem Tod,
kein Wunder bei seinem Rausch, und sonst
spricht eigentlich nichts für ihn. Aber
er macht sich gut, um das Problem der Leere
zu lösen, das sich auftut, wenn der Rettungswagen
sein Opfer wegfährt, denn so ganz ohne Übergang

läßt es sich ja nicht zurückkehren zur Schlagsahne,
zu Fleurop und zur Trockenhaube, wenn man gerade
den Tod in Aktion gesehen hat –
live, in Farbe, im vierten Programm, gebührenfrei!
Aber da läßt sich dann der Wermutbruder, dieser
Penner, einfach ins Gras fallen, wirft seinen Hut
in die Luft als ob im Frühling das Leben nur
eine Lust und der Tod eine Selbstverständlichkeit
sei, und leert seinen Flachmann vor aller Augen!
Schamlos! Rettet die Kinder vor ihm! Rettet

das Mittagessen! Rettet euch selbst und rettet
den Tod! Und schon ist die Straße wie
ausgestorben, bis auf den Wermutbruder,
der immer noch auf dem Rasen sitzt
und auf seinen Hut wartet.
Wo bleibt denn der Hut?
Der Hut hängt im Baum.
Der Wermutbruder lacht,
umarmt den Baum, angelt sich
den Hut und stolpert stadteinwärts,
der Sonne zu.

9.–11. 3. 1979

— Jörg Fauser: Frühlings-Szene, in: Trotzki, Goethe und das Glück, Alexander Verlag, Berlin 2004

Dank an Alexander Wewerka für die freundliche Genehmigung, Fausers Gedicht hier zu veröffentlichen.

Der Job (re-revisited)

Politik ist mitunter poetisch; wahre Poesie letztlich immer auch politisch. Schön ist der Moment, wenn sich Kreise zufällig schließen und der stille Schrei unvermittelt ein lächelndes Echo aus der Ferne erfährt – aufmunternd und tröstend:

»Wir nehmen die Menschen weder isoliert voneinander wahr, noch getrennt von den anderen Wesen der Welt; wir sehen sie durch vielfältige Bindungen verknüpft, die zu verneinen sie gelernt haben. Diese Verneinung erlaubt es, die affektive Zirkulation zu blockieren, durch die diese vielfältigen Bindungen empfunden werden. Diese Blockade ist ihrerseits nötig, damit man sich an das neutralste, farbloseste, durchschnittlichste Regime der Intensität gewöhnt, dasjenige, das einen dazu bringt, sich Urlaub, die Wiederkehr der Mahlzeiten oder entspannte Abende als eine Wohltat zu wünschen – will sagen Dinge, die genauso neutral, durchschnittlich und farblos sind, frei gewählt. Von diesem Regime der Intensität, es ist in der Tat sehr verwestet, nährt sich die imperiale Ordnung.

Uns wird gesagt: Indem ihr die emotionellen Intensitäten verteidigt, die im gemeinsamen Experimentieren entstehen, widersprecht ihr dem, was die Lebewesen zum Leben verlangen, nämlich Annehmlichkeit und Ruhe – übrigens heute zu hohem Preis verkauft, wie jedes verknappte Lebensmittel. Wenn man damit meint, dass unser Standpunkt unvereinbar ist mit autorisierter Freizeit, dann könnten selbst die Wintersportfanatiker annehmen, dass es kein großer Verlust wäre, alle diese Skistationen abbrennen zu sehen, und den Platz den Murmeltieren zurückzugeben. Hingegen haben wir nichts gegen die Zärtlichkeit, die alle Lebewesen als Lebewesen mit sich tragen. „Es könnte sein, dass Leben etwas Zartes ist“, irgendein Grashalm weiß es besser als alle Bürger der Welt.

 
TIQQUN, in: Der Aufruf (2003)

Die Wette gilt. Und es ist egal, wer zuerst ankommt.

Himmel und Hölle – Deutschland im Vormärz

Es gibt Tage, die sind rund – sie verlaufen harmonisch, beginnen leise, haben einen oder mehrere Höhepunkt und klingen sanft und friedlich aus. Und es gibt Tage, die sind eckig – irgendwann läuft es in eine völlig unerwartete Richtung, mit meist unangenehmen Wendungen, zurück bleibt ein Gefühl der Erleichterung, wenn sie enden. Letztlich gibt es aber auch Tage, die sind derart paradox, dass man Schwierigkeiten hat, die vergangenen 24 Stunden als ein Kontinuum zu begreifen, weil der Gesamtverlauf keinen Sinn macht und sich jeder Einordnung entzieht. Scheinbar.

Gestern war so ein Tag.

Ungemein mild war der Morgen, nach all dem Frost. Der dicke Dompfaff im Pflaumenbaum vor dem Küchenfenster verstand dies sofort als Aufforderung, sich noch mehr aufzuplustern als sonst und pumpte übermütig noch ein Quentchen mehr Farbe in sein Brustgefieder. Bester Dinge machte ich mich auf ins Büro.

Die fünf Minuten Wartezeit am Bahnhof verbringe ich meist in stiller Kontemplation: Mein Blick schweift dabei über die Auen der Sieg, die frühen Vogelschwärme in geschäftiger Aktion – all dies im schönen Licht des dämmernden Tages. Dass ich dabei rauche ist eigentlich nicht erwähnenswert, im diesem speziellen Fall aber essentiell.

Ich stehe also da, ziehe hin und wieder an meiner Zigarette und erfreue mich trotzdem am Duft des Nebels, der vom Wasser des Flusses unterhalb der Gleise zu mir hoch zieht, als ich aus den Augenwinkeln jemanden mit energischem Schritt auf mich zu stapfen sehe. Abrupt bleibt er vor mir stehen, sein Keuchen mühsam unterdrückend, mit einem Gesichtsausdruck, der entschlossen wirken soll.

– Finden Sie das okay?
– Was finde ich okay?
– Dass Sie hier rauchen?

Ich überlege einen Moment. Worauf will er hinaus? Ich wähle die Karte: Ehrliche Antwort.

– Naja, ich rauche gern noch eine Zigarette, bevor ich in den Krieg ziehe, antworte ich freundlich.

Kurzes Schweigen. Ich kann förmlich sehen, wie der Mann mir gegenüber genüsslich all die Worte in seinem Kopf zusammenklaubt, die er sich zwei Minuten vorher mühsam erarbeitet hat.

– Dies ist ein rauchfreier Bahnhof. Machen Sie bitte die Zigarette aus.

Ich betrachte mein Gegenüber genauer: Ein großer Mann steht da, ungefähr Mitte 50. Ein freundlicher grauer Bart umspielt seine etwas verbissenen Lippen. Echt gepflegt, dieser Mann und auf Etiquette bedacht, finde ich. Obendrein läuft er kostenlos Werbung für Jack Wolfskin: Jacke, Rucksack, Schuhe – alles ziert die momentan wohl unvermeidliche Tatze. Schon hat er verloren.

– Schauen Sie sich doch bitte mal um, antworte ich mit einem Lächeln und deute auf den Bahnhof, der im Grunde nichts anderes ist als ein betonierter Ponton mit Gleisanschluss.

– Ich glaube kaum, dass sich hier irgendjemand von meinem Zigarettenrauch belästigt fühlt. Sie wohl am wenigsten, da Sie vor einer Minute noch da hinten unter dem Holzdach standen.

Dabei zeige ich auf den hinteren Bereich des Bahnsteigs, der etwa 20 Meter entfernt ist. Ich selbst stehe am anderen Ende des Pontons, unter freiem Himmel, neben einer Umspannstation, die die hiesige Bevölkerung weiträumig umschifft aufgrund vermeintlicher und böser elektromagnetischer Strahlen. Mich interessiert das nicht, ich bin immun gegen böse Schwingungen – und gewöhnlich auch gegen böse Blicke.
Demonstrativ blase ich eine dicke Wolke aus. Sie zieht an der Umspannstation vorbei. Augenscheinlich belästigt der Qualm niemanden – höchstens ein paar Maden, die in der Kiefer hinter dem Bahnsteig dösen. Ein Husten ist von ihnen jedoch nicht zu hören.

– Sie dürfen hier aber nicht rauchen. Es gibt schließlich Regeln.

Was soll man darauf antworten? Ich überlege und ziehe die Karte: Gesunder Menschenverstand. Auch übe ich mich weiterhin in Freundlichkeit.

– Ja, da mögen Sie Recht haben. Aber nicht alle Regeln machen Sinn. Sie geben meist nur einen Rahmen vor, der kreativ gefüllt werden will. Denken Sie mal an die Steuergesetze.

Kurzes Schnaufen.

– Sie halten sich wohl für etwas Besseres, zischt es zurück. Sie meinen wohl, für Sie gelten keine Regeln, was?

Okay. Dieses Gespräch wird länger dauern, wenn ich nicht aufpasse. Das will ich nicht. Ich kürze also ab, in der Hoffnung, bei diesem Mann – Lehrer oder Ex-Kettenraucher oder beides – auf Einsicht zu stoßen.

– Nein. Wenn mir eine Regel sinnvoll erscheint, dann halte ich sie auch gerne ein. Im Zug, zum Beispiel, da rauche ich nicht, weil ich niemanden mit meinem Qualm belästigen möchte. Verstehen Sie, was ich meine?

Er will nicht verstehen.

– Junger Mann (ich fühle mich natürlich sofort geschmeichelt), Sie machen einen sehr intelligenten Eindruck auf mich (jetzt fühle ich mich allerdings weniger geschmeichelt, weil ich begreife, dass er versucht, mich auf diese Tour rum zu kriegen) – wollen Sie nicht verstehen, dass es hier ums Prinzip geht?

Das war leider das falsche Stichwort. Ich hasse Prinzipienreiter. Dementsprechend ändert sich auch meine Tonlage. Dieser Mensch ist nur noch lästig.

– Okay, abschließende Antwort, weil unsere Unterhaltung zu nichts führt: Ich rauche meine Zigarette hier zu ende und werde auch morgen früh wieder eine rauchen. Zwar ist dies hier korrekt betrachtet ein rauchfreier Bahnhof und Raucher sollen einen Raucherbereich nutzen, der leider nicht kenntlich gemacht ist. Ich stehe weit genug entfernt von jeglicher Person. Niemanden – außer mir und meiner Lunge vielleicht – entsteht dadurch ein Schaden. Und nun treten Sie bitte ein Stück zurück – ein Meter sozialer Mindestabstand sollte schon drin sein, finden Sie nicht?

Vergeblich.

– Warum weichen Sie einem Diskurs aus?, säuselt der Oberlehrer. Es geht darum, dass nicht jeder machen kann, was er will. Oder finden Sie das etwa auch okay, wenn Jugendliche mit einem Baseballschläger auf unschuldige Rentner einprügeln? Diese Asozialen halten sich ja auch nicht an Regeln.

Offenbar will er nicht begreifen. Und ich werde langsam wütend.

– Mein Rauchen hat mit verbitterten Kids nichts zu tun. Und Ihre Prinzipen ändern auch nichts an dieser Tatsache. Im Gegenteil: So eine Haltung wie Ihre — ich nenne sie mal salopp ‚Blockwartmentalität‘ — war dafür verantwortlich, was ’33 passieren konnte. Und nun hören sie endlich auf, mich zu nerven. Ich diskutiere ungern mit Faschisten.

Sein Gesicht wird rot.

– Was haben Sie gesagt? Das lasse ich nicht auf mir sitzen!

Ich schnippe wortlos die Kippe in den Busch neben der summenden Trafostation. Konsterniert und wutschnaubend blickt er mich an.

– Wissen Sie, was Marderspray ist? Das bringe ich morgen mit. Dann werden wir schon sehen.

Der Zug läuft ein und ich achte darauf, dass mir dieser Mensch nicht in den gleichen Waggon folgt.

Mein Arbeitstag verläuft in gewohnter Routine: Kindischer Stress, jede Menge menschlicher Abgründe und nichtsdestotrotz zahlreiche stille Momente voller Poesie und Schönheit. Dann Feierabend und Rückweg. Mein Zug hält wieder am Ponton mit Gleisanschluss, diesmal aus umgekehrter Richtung. Inzwischen ist es dunkel. Ich steige in meinen Wagen, fahre vom Parkplatz und bemerke, dass ein junger Mann mit diversen Trolleys zaghaft seinen Daumen raushält, um mir zu signalisieren, dass er einen Lift braucht. Ich bremse neben ihm und mache von innen die Beifahrertür auf.

– Wo musst du hin?

Der junge Mann scheint nicht glauben zu können, dass ihn jemand mit nehmen möchte. Er zögert einen Moment.

– Komm, steig ein. Um diese Zeit fährt hier kein Bus mehr.

Völlig perplex wirft der Junge seine sieben Sachen in diverse Bereiche meines Kombis und steigt endlich ein. Er hat seine Sprache immer noch nicht gefunden, als ich los fahre.

– Ich muss Richtung Dattenfeld. Soll ich dich irgendwo raus lassen? Ist das überhaupt deine Richtung?

Endlich findet der Junge wieder Worte und eröffnet mir, dass er zum Internat auf dem Berg muss. Alles klar, kenne ich, kein Problem.
Im Laufe der kurzen Fahrt plaudern wir über dies und das. Dass er in die 11. Klasse geht ist nicht schwer heraus zu finden – seine Art zu Erzählen und sein Äußeres sind einfach zu verräterisch. Wir sprechen über Abi-Stress und G8, über meine Tochter, deren Namen er unbedingt wissen will und über meine überaus entspannte Zeit in der Oberstufe, damals, als ich stets erst gegen 12.00 in der Schule auflief, weil ich nur die Mindeststundenzahl belegt hatte. Wir lachen viel, während wir an der Hochwasser-geschwängerten Sieg entlang tuckern.

– Hey, Sie sind echt ein total netter Kerl. Bisher haben mich nur Frauen mitgenommen, nie Männer, sagt er dann unvermittelt.

Was soll ich darauf antworten? Ich ziehe das Schweigen vor. Irgendwann halten wir vorm Internat, ich drehe den Motor ab. Wir sitzen nebeneinander vorne im Auto und blicken auf die blinkende Hausnummer des Schulgebäudes. Schweigen. Dann:

– Wissen Sie was? Sie sind echt der netteste Mensch, der mir je begegnet ist, sagt er nach einem langen Moment.

– Quatsch, du übertreibst, antworte ich und meine es genauso, wie ich es sage.

– Nee, wirklich. Ich habe bisher noch niemanden getroffen, der so nett ist, wie Sie.

Dieser 17-jährige Junge blickt mich strahlend von der Seite an und weiß nicht, ob er jetzt aussteigen und seine Sachen nehmen soll. Ich denke einen Augenblick über seine Worte nach.

– Das ist schade, antworte ich nach einem Moment. Wäre es nicht viel schöner, wenn man viel öfter im Leben netten Menschen begegnen würde?

Der Junge denkt schweigend über meine Worte nach, grinst, steigt aus, zieht seine diversen Trolleys und Koffer aus dem Auto, schließt die Türen und winkt mir im Gehen noch mehrmals freundlich zu.

– Vielen Dank! Und grüßen Sie Ihre Tochter von mir, ruft er noch, als ich den Wagen wende und ich mich mit einer stummen Geste von ihm verabschiede.

Während der restlichen Minuten meiner Heimfahrt denke ich über diesen merkwürdigen Tag nach. Mich überkommt schließlich die leise Hoffnung, dass noch nicht alles verloren ist. Es kann zukünftig nur besser werden. Und ich leiste gerne meinen Beitrag dazu.