Möglicherweise war dies der letzte warme Tag des Jahres. Grund genug, Herrn Prunus mal wieder zu behelligen. Ich muss ihn nicht lang suchen, er ist dort, wo er seit fünfzig Jahren schon zu finden ist: am Anfang der Obstwiese — die unser Nachbar (ein im Grunde herzensguter Mensch) als eine der Brutstätten der heurigen Schneckenplage ausgemacht haben will. Ist ja alles so verwildert. Irgendwie schon wahr. Soll aber hier nicht weiter interessieren.
In lauen Sommernächten suche ich gern die Nähe von Herrn Prunus. Er scheint stets auf mich zu warten, wenn ich abends aus dem maladen Moloch namens „Metropole“ heim kehre und den Unsinn des Tages los werden muss. Bei ihm ist immer ein Stuhl frei. Ich wähle meist den niedrigeren, denn er erlaubt mir eine bessere Bodenhaftung. Ich sitze dann dort und mache eigentlich nichts weiter, als genau das: Den Blick schweifen lassen über den Waldrand, es ist still. Hin und wieder macht ein Fuchs Geräusche, als würde er kotzen — und die Käuze, die ich wohl nie zu Gesicht bekommen werde, erzählen sich Witze, die ich nie verstehe. Nebel steigt aus den umliegenden Feldern und das Tageslicht verdämmert in atemberaubendem Tempo. Friede ist auf der Welt. Ich schwinge sanft hin und her im Hängestuhl meiner Tochter, der die Pubertät gerade das Hirn neu verdrahtet und hänge meinen Gedanken nach — sie tropfen sanft ab in den taufrischen Hort der Schneckenbrut — und alles ist gut.
Und Zeit für seinen Auftritt.
Je nach Lage segelt mir dann meist ein Blatt auf den Kopf, ganz sanft. Oder eine reife Kirsche ploppt auf die Fontanelle, ohne mir Schmerz zuzufügen.
— Na, Chef, wie war dein Tag?
Das ist sein Standard-Intro. Seit vier Jahren schon. Ich suche nach den richtigen Worten.
— Ach, eigentlich ganz okay. Der übliche Wahnsinn halt. Ich übe mich tapfer im Erzeugen von Realität. Muss ich noch ein bisschen dran feilen. Gelingt mir aber von Tag zu Tag besser.
— Is‘ klar.
— Was »Is‘ klar«?
— Scheinst ja immerhin auf mich zu hören. Versuchst es wenigstens.
Schweigen.
— Siehst müde aus, sagt er.
— Bin ich auch.
— Warum?
— Lange Geschichte.
— Ich hab‘ Zeit. Solltest du inzwischen wissen.
Es ist jetzt dunkel. Nur meine Zigarettenglut spendet noch fahles Licht. Und mich finden endlich Worte. Ob sie richtig sind, weiss ich nicht.
— Es ist alles so anstrengend … und aufreibend.
— Bullshit.
Ich schaue hoch in den Himmel, auf die Arme von Herrn Prunus, die in alle Himmelsrichtungen zeigen — ausser nach Westen, da lugt nur ein rudimentärer Ast heraus.
— Aha.
Pause. Der Fuchs im Pappelhain erbricht irgend etwas. Knochen vielleicht.
— Du hast mir letzes Mal nicht richtig zugehört.
— Blödsinn.
— Inzwischen solltest du auch wissen: Im Grunde ist alles ganz einfach.
Die Zigarette fliegt auf das angrenzende Gründstück. Der grundsätzlich nette Nachbar wird morgen behaupten: „Jetzt fangen die Schnecken auch noch an zu rauchen. Unglaublich!“
Geschenkt.
— Wenn mir die Kälte entgegen bläst …
— … verlierst du die Blätter, ergänze ich.
— Genau. Einem nackten Mann kann man so nichts mehr nehmen.
— Und im Sommer…, setze ich fort.
— Im Sommer, da steht alles im Saft, dann werfe ich richtig mit meinen Geschenken um mich.
— Weiss ich. Und?
— Was »und«?
— Was willst du mir damit sagen, alter Mann?
Eine Wühlmaus quietscht. Ich verstehe nicht, was sie sagt. Herr Prunus offenbar aber schon.
— Richtig. Alles zu seiner Zeit.
— Ich verstehe nicht so ganz.
— Weiss ich. Und genau das ist den Problem — Was trinksten du da?
Ich schaue in mein Glas und komme mir plötzlich klein vor.
— Einen 92er Bergerac. Wieso?
— Haste noch was übrig? Sieht verdammt lecker aus.
Ich schraube mich aus dem Hängestuhl, gewillt, Herrn Prunus ein Gläschen zu kredenzen …
— Kommst du?, ruft sie aus der Küche.
— Ja, antworte ich.
Und weiss schlagartig, dass ich mit Herrn Prunus noch lange nicht fertig bin. Ich trotte durch die Wiese Richtung Haus und drehe mich noch einmal um:
— Wir sprechen uns noch!, rufe ich ins Geäst und meine Herrn Prunus.
Als ich den Komposthaufen passsiere, höre ich ein leises Seufzen.
–Is‘ klar. Du weisst ja, wo du mich findest.
Die Nacht wird sternenklar. Ob ich schlafen kann, steht ebenfalls in den Sternen. Wie gut, dass Herr Prunus nicht wegläuft.