31.01.2014

LEKTIONEN IN DEMUT (3)

Mich umgeben gerade viele junge Menschen. Teilweise sind sie noch sehr jung, sie könnten Söhne und Töchter von mir sein. Anfangs war ich skeptisch – nein unsicher, in ihrer so verblüffend wärmenden Gegenwart. Grundsätzlich verängstlicht in Bezug auf meine Rolle. Diese findet sich jetzt langsam. Nach fast einem Semester.

Was mich so bass beeindruckt: Diese jungen Wesen sind durch die Bank liebenswert, und zwar extrem. Und jeder von ihnen ist mehr oder weniger auf einem tollen, spannenden und fast immer richtigen Weg.

Wenn ich dann – so, wie heute – in der warmen Sonne inmitten dieser Herde junger Wölfe und Täubchen verweilen darf, fühle ich mich gleichzeitig alt und jung, glücklich und traurig, zerrissen und geheilt.

Dieses unbändige Lust aufs Leben, das horizontlos vor ihnen ausgebreitet liegt – ein Supermarkt der Möglichkeiten.
Diese umwerfend-mitreissende Unbeschwertheit, die noch nicht an Morgen denkt.
Dieses ausgelassene Im-Moment-Sein, zu wissen: »Was zählt ist auffem Platz«. Und nichts anderes.
Diese Nähe und Verbundenheit ohne Konvention, die sich über flüchtig zugeworfene Blicke erzählt.
UND DIESES LACHEN!

Dann könnte ich weinen.
Weil es damals so anders war, bei mir.
Mir dies alles nicht zuteil wurde.
Dummerweise.
Weil ich es so wollte.
Damals.

Die jungen Menschen akzeptieren mich – so, wie ich eben bin, ich werde nicht als »Alter Mann« verlacht.
Jedoch bin ich mir bewusst, dass ich nicht an ihrer Aura teilhaben kann – niemals, und nie gänzlich.

Ich bin der Zausel, ein willkommener Zaungast, das reicht und das ist gut – und ich darf von ihnen lernen:
Nicht zu trauern, über mich – nein, mich zu freuen, über das Leben, besonders aber für sie.

30.01.2014

Man hört mir zu. Sehr genau. Neugierig. Unterbricht mich nicht. Ist still. Lässt mich ausreden. Bis ganz zum Schluss. Ist angeregt. Vielleicht sogar dankbar? Ein klein wenig, möglicherweise.
Ich werde mich allmählich dran gewöhnen.
Müssen.

Dürfen.

29.01.2014

Schon toll, was man alles in 18 Stunden gebügelt bekommt –
wenn Gevatter Flow erst mal im Raum steht, irgendwann freudig zu tänzeln beginnt und einen dann in vergnügt beschwingten Runden durchs Zimmer wirbelt, an einem Ort, an dem Staubflocken geradewegs wie Funken im sonnigen Gegenlicht stieben, lustig flirren, nicht gewillt zu landen – wozu auch? – in der Schwebe ist es einfach so schön schwerelos.
So zergeht der Tag munter prickelnd auf der Zunge, macht am Ende ganz laut ZISCH! und legt sich dann zufrieden seufzend ins Gebüsch.

28.01.2014

Kopf brummt, zu viele Worte gedacht heute. Zu wenig gespürt. Schlechtes Gewissen, wider besseres Wissen. Was tun? Überhaupt tun? Was müssen? Nichts müssen, alles darf. Tee trinken. Ab und zu warten. Geduld erdulden, demütig darben. Nein, zärtlich umarmen, alle vermeintlichen Fehler, die es nicht gibt, in Wirklichkeit. Weiß ich. Alles. Doch! Nein, niemals zweifeln, höchstens an den Zweifeln. Alles ist so. Ja, sie kommen wieder. Die Worte. Meine. Unbedacht.

27.01.2014

Siebenundzwanzig Tage ohne Alkohol sind … irgendwie doch  sehr … »protestantisch«.

Nein, eher so »Raufasertunnelblick auf OM mit eingeschlafenen Füßen«.
Nee, vielleicht doch mehr: »Hottest shit in self-optimizing and self-quantifying holistic body-shaping work-out programs«.
Hm, wenn ich drüber nachdenke: »Wir haben zugegeben, dass wir unseren Emotionen gegenüber machtlos waren, dass unser Leben nicht mehr zu meistern war«.
Oder, möglicherweise noch präziser: »Wir haben von uns eine gründliche und furchtlose [fürchterliche?] Gewissensinventur gemacht«.
Stopp-stopp-stopp!

Siebenundzwanzig Tage ohne Alkohol sind eigentlich wie siebenundzwanzig Tage mit Alkohol.
Anders subtil.
Das ist gut so.
Und ja auch nicht für die Ewigkeit.

26.01.2014

Augen auf sechs.
Laufschuhe an halb acht.
Schauer über 10 km.
Apfel, Birne, Clementine in Bambus.
Lesen von 23 bis 244.
Augen zu elf.
Café com leite.
Zucker rein.
Lesen von 1 bis 78.
Dämmerung, Paul in Sieg.
PLATSCH!
Ofen an.
Tee drauf.
Music on.
Sonntag aus.

25.01.2014

Inzwischen kann ich Murakami – insbesondere seinen Hang zu Ritualen und festen Regeln – gut verstehen: Sie sind nichts anderes als ungemein hilfreiche Leitplanken, um sich besser auf das Wesentliche konzentrieren zu können.

Was gemacht werden muss, das wird gemacht – ohne es immer wieder in Frage stellen zu müssen.

So bleiben Raum und Energie erhalten – für all jene Dinge, die dürfen.

Banal einfach. Extrem wirkungsvoll.

(Was sich bei mir nie als Ritual einstellen wird: Texte, wie diesen hier, regelmäßig auf einem Tablet zu schreiben…)

24.01.2014

Wenn knüppelharte Kerls mit
Fusselbart und  Socken
auf kalten Kirchenböden hocken
ganz verzückt in halligen Kadenzen
einer Poppy Ackroyd glänzen
dann ist Liebe wieder eine Kolonie
und Musik ganz großer ambienter Shit.

23.01.2014

Wenn du etwas wissen willst und es durch Meditation nicht finden kannst, so rate ich dir, mein lieber, sinnreicher Freund, mit dem nächsten Bekannten, der dir aufstößt, darüber zu sprechen.

 
— Heinrich von Kleist: Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden (1805)

Nicht nur formen sich Gedanken, indem man darüber mit ‘dem nächsten Bekannten’ spricht – nein, sie verfestigen sich im selben Maße. Und das ist noch viel schöner!
Denn so wird Vages endlich manifest, Unausgegorenes langsam gar.
Angst, über die man redet, verliert nach und nach ihren Schrecken.
Und Zuneigung verstärkt sich wunderbar.

Alles, was es braucht, ist ein Gegenüber. Den anderen. Das Andere.
So einfach eigentlich.
So schwer manchmal.

22.01.2014

Die meisten halten ihn für einen Kretin. »Der Kerl hat bei der Geburt zu wenig Sauerstoff abgekriegt«, behaupten jene, die es noch halbwegs gut mit ihm meinen. Andere wiederum sagen – meist hinter vorgehaltener Hand – er wäre im Fuselrausch gezeugt. Das äußern jene, die ihn am liebsten weggebracht sähen – in irgendein Heim, weit weg, vielleicht in ein Lager für Grenzdebile, auf jeden Fall raus aus ihrem Sichtfeld. Und im Idealfall: dauerhaft.

Er hat einen Narren an mir gefressen. Schon morgens werde ich vom »Pling« seiner WhatsApp-Nachrichten geweckt. Meistens sind es Ensembles abstruser Smileys und Emoticons, selten Text – und wenn, dann kurz. Worte sind nicht so sein Ding, Worte winden sich. Bilder sind ihm näher. Bilder verstehen selbst Kinder,

Als wir uns kennen lernten stotterte er wie ein Schiffsdiesel vorm Absaufen. Rote Ohren hatte er, wenn er mit mir sprach – besser: es versuchte. Oft brach er seine kläglichen Anläufe nach endlos hingezogenen Halbsätzen vor Aufregung ab. Insgeheim hatte er Angst. Weil er mich nicht so richtig einschätzen konnte. In seinen Augen war ich ohne jeden Zweifel ein super schlauer Kerl: Sprachgewandt, ein Thesaurus auf staksigen Beinen – Worte rausballernd, die sein Hirn weder jemals gelesen noch vernommen hatten. So völlig anders. Eindeutig unerreichbar.
Irgendwas zog ihn dennoch zu mir hin.

Wahrscheinlich lag es einfach daran, dass ich ihn ernst nahm. Nie lachte ich ihn aus. Und wenn ich lachte, dann wollte ich, dass er mit mir lacht. Fast immer gelang es mir. Oft verblüffenderweise gerade dann, wenn ich meine Ironie-Sophismen zum Besten gab – jene off-kilter-Kalauer, die erst um drei Ecken äugen, dann absurde Haken schlagen, um erst ganz zum Schluss jene erlösende Leuchtrakete namens »Boah ey, krass!« abzufeuern.
So gewann ich mit der Zeit sein Vertrauen.

Und dadurch einen treuen Freund.

Maurice ist sein Name. 33 ist er heute geworden. Dass ich an seinen Geburtstag überhaupt gedacht habe, hat ihn extrem berührt. Ich war gerade bei ihm. Mit zwei Hachenburger Pils in der Jacke stand ich vor seiner Tür, klingelte und erschreckte ihn dadurch fast zu Tode. Doch das Glück, mich zu sehen – zu sehen: ich komme zu ihm! – reanimierte ihn innerhalb einer Sekunde.

Jetzt weiß ich wieder, wie Freude aussieht.
Tief empfundene Freude im Gesicht eines tumb wirkenden Riesenbabies.
Eines pummeligen Riesenbabies, dessen Herz so viel Zuneigung und Wärme besitzt, um ganz Hoppengarten im Falle eines sozialen Temperatursturzes am Leben zu halten.

Wir tranken unser Bier. Der Küchenofen bollerte sein Lied.
Wir sprachen nicht viel. Nur das Nötigste, es passt auf zwei Bierdeckel.
Lebensechte Kretins stammelten derweil Stuss auf RTL2.
Leise genug, um zu verstehen, dass sein Schweigen aus jeder Pore mir ein »Danke« entgegen schreit.

Es klingt wie eine Explosion.
Der Sprengstoff dafür ist so billig.
Ein bisschen Respekt, ein wenig  Achtung – und ein feines, perfekt temperiertes Bier.