Selbst. Vergessen.

© Richard Messenger [http://www.flickr.com/photos/richardmessenger/3772445658] CC-BY-NCDer Sommer war prall gefüllt mit unzähligen kleinen Momenten des stillen Glücks: Ein wohlgekühltes Glas Picpoul de Pinet in der Dämmerung – ich selbst dabei an den Kirschbaum gelehnt; der Duft des Gartens am frühen Morgen; ein heftiges, doch reinigendes Gewitter in den Schweizer Bergen; am Feuer sitzen, in die Glut schauen, ein kurzer Blick zum Himmel: Sternschnuppe; Kinder, die mich mit großen Augen ansehen; Lili, mit der ich nächtelang philosophierte; Charlie – an meiner Schulter eingeschlafen – ich trage sie nach oben; laut Musik hören, bei geöffneten Fenstern – ein Spatz nimmt Platz auf der Fensterbank, blickt mir grinsend in die Augen und hüpft vor Freude; Jörg Fauser in der Bahn lesen – und fast vergessen, auszusteigen; am Bahnhof warten und die kleine, süsse Portugiesin beobachten, die iPod-gestählt am Rande des Pontons selbstvergessen zur Musik tanzt.

So ist das

Du lässt dich hier nicht mehr blicken«, sagte einer, und dann hatten sie mich in der Mangel, pass auf, dass du nicht zu Boden gehst, dachte ich noch, ich hielt die Brille fest und bekam noch einen Tritt in den Magen ab, dann lag ich draußen. Das war also das Pflaster. Es schmeckte nicht schlechter als vieles andere, aber gewöhnen wollte ich mich auch nicht daran. Ich suchte meine Brille, bis ich feststellte, dass ich sie in der Hand hielt. Ich setzte sie auf. Aus der Nähe sah dieses Pflaster interessant aus, es gab sogar einen Riss, der durch den Asphalt lief, und in dem Riss spross ein Grashalm. Wenn das so ist, dachte ich, kannst du auch aufstehen.

 
Jörg Fauser: Rohstoff (1984)

In kleinen Dosen

By montillon [ http://www.flickr.com/photos/montillon/3216317664 ] CC-BY-SAMeine Schwester arbeitet in der chemischen Forschung. Während ihrer Ausbildungszeit war es üblich, verharzte Hände mit Benzol zu reinigen. Das funktionierte auch ganz prima — bis man heraus fand, dass diese aromatische Verbindung schwer krebserrregend ist.
Auch verstieg man sicher früher in der Annahme, ein Fluss wäre sauber — bis es Messgeräte gab, die kleinste Mengen von Cadmium im ppm-Bereich nachweisen konnten.

Was sagt uns das?

  1. Die Wissenschaft bleibt nicht stehen, sie macht Fortschritte, sie lernt nie aus.
  2. Wissenschaftliche Ergebnisse sind also relativ und niemals abschließend.
  3. Was man nicht sucht, wird man (meist) nicht finden.
  4. Etwas, was momentan noch nicht nachweisbar ist, wird man zukünftig vielleicht beweisen können.

Das alles finde ich super. Wissenschaft ist töfte, macht hin und wieder sogar Spaß, hält den Verstand auf Trab und ist das bisher beste Mittel, der Realität immer näher auf die Pelle zu rücken.
Vielleicht findet man dann auch irgendwann heraus, dass Homöopathie und andere alternative Heilmethoden tatsächlich wirken. Oder das alles eben doch nur Scharlatanerie brutalsten Ausmaßes ist.

Bis dahin werde ich deshalb vermeiden, solche Diskussionen erneut zu führen.
Weil ich weiss, dass ich (eigentlich) nichts weiss.

Besinnung auf das Wesentliche

Ich muss seit einiger Zeit Situationen ertragen, die aufgrund unnötiger Reibungsverluste mein Wohlergehen ungemein zu beeinträchtigen drohen — erzeugt von hier nicht namentlich genannten Mitmenschen (die gern Profis wären, aber bestenfalls und mit viel Glück in der Amateurliga spielen).

Dies passiert nicht im wirklichen Leben — also, nicht da, wo es wesentlich ist.

All jenen, die das Leben nicht als großes Spiel begreifen und über so ein Problem weglächeln können, leistet Peter Brodericks wunderbarer Song »And It’s Alright« vom ebenso wunderbaren Label Hush Records den dankbaren Dienst, sie in Momenten, in denen sie von Ohnmacht umnachtet scheinen, wieder auf die Beine und den Boden der Tatsachen zu helfen.
Zu dem also, was tatsächlich zählt.
Zum Beispiel: Sieben Sternschnuppen in einer Nacht zu sehen.

Nicht vergessen: Es sind immer die kleinen Dinge, die wirklich bedeutsam sind.
 
 
Peter Broderick – And It’s Alright

Lustgewinn durch Verzicht

Die erotische Passage, die an dieser Stelle herausgekürzt wurde, war eigentlich nicht schlecht, ziemlich drastisch und dennoch — in Maßen — poetisch. Der Verlagsvolontär habe nach Abschluss des Lektorats die Seite aus dem Abfalleimer gefischt. Erzählt die Putzfrau. Kopien sollen im Internet kursieren. Wie auch immer.

 
— Helmut Krausser: Kartongeschichte (2007)

Köln. Hodenkneterstadt.

Wir lebten inzwischen am Rande des Eigelsteins, einer türkischen Enklave in der Nordstadt. Von den Bahngleisen, auf denen der Thalys mehrmals täglich zum Gare Du Nord rauscht, trennte uns bloß ein Häuserzug. Halbe Tage konnte ich nun nicht mehr in Cafés verbringen, ich beliess es meist auf ein, zwei Espresso. Länger hätte ich auch nicht mehr ertragen. Das unaufhörliche Dröhnen der Stadt begann an meinen Nerven zu zehren. Schon der Gang um’s Eck, zu Ali, meinem Kioskmann, wurde zur Qual. Meinen Platz auf dem Gehweg musste ich mir immer öfter mit spitzem Ellbogen und abgewendetem Blick ertrotzen. Schleichend verwandelte sich der gesamte Alltag in Kampf. Gestank penetrierte plötzlich ungefragt die Nase – und die Ohren wurden malträtiert von jaulendem Türk-Pop, der mich stets an Sänger denken ließ, denen ein unsichtbarer Derwisch die Hoden knetet. Furchtbare Musik. Dabei bin ich wirklich offen, was Musik betrifft: Es gibt so viele unterschiedliche Stile und Richtungen, die mich wahrhaftig bei den Eiern packen. Doch der Zugang zu orientalischen Kompositionen wird sich mir wohl nie erschliessen. Er wird auch nicht erleichtert durch ein infernalisch lautes »Ayshe« aus einem tiefergelegtem 3er-BMW, der unter meinem Fenster dahin wummert – gerade in einem Moment, wo ich Zuflucht suche in den leisen Klängen von Sigur Ròs.

Köln. Transitstadt.

Mich verschlug es nach Köln. Es hätte auch Hamburg, München oder Berlin sein können. Aber es war halt Köln. Das hatte mir einer Frau zu tun, die unbedingt Biologie studieren wollte, es nach zwei Semestern aber aufgab. Sieben Jahre älter als ich war sie, wir teilten eine Wohnung am Friesenplatz, direkt gegenüber vom Päffgen. Ich liebte sie, glaubte ich zumindest, ich wollte ihr bis ans Ende der Welt folgen, wenn sie es verlangte, das schwor ich ihr und mir — konnte dabei aber nicht ahnen, dass das Ende der Welt nur ein paar Meter weiter um die Ecke lag, im Belgischen Viertel, in das sie zog, als sie sich in einen anderen Kerl verliebte.

Wolfgang hilft

Kaum aus der Psychiatrie entlassen, holte ich mir auf meiner Mansarde einen runter. Im Marienhospital hatte ich keinen Steifen gekriegt, was wohl an dem Hängolin lag, das die mir in den Kaffee gegeben hatten. Nun ging es wieder, und es kam gut, kam sehr gut. Ich fragte mich, ob der jahrelange Sex mit mir selbst dazu geführt hatte, daß ich plemplem geworden war. Aber dann müßten ja alle katholischen Geistlichen und Junggesellen ohne Freundin reif sein für die Klapsmühle. Sind sie es nicht auch? […] Ich wäre sehr gern Schriftsteller geworden, aber was sollte ich schreiben? Sollte ich einen Roman daraus machen, wie ich jeden Tag in die Wirtschaft gehe und mich besaufe? Manche Tage waren ganz unterhaltsam, wenn man den Experten beim Klammern zusah, aber sollte ich schreiben, Erwin spielt die Herz zehn auf, Kurt geht mit der MI drüber, Manfred fängt sie mit dem Jas und Klöte wirft einen bei? Und das auf dreihundert Seiten?

 
— Wolfgang Welt: Doris hilft (Suhrkamp st 4051)