Lektion in Demut

© Jen Waller [http://www.flickr.com/photos/jenwaller/2777669748] CC-BY-NC-SAFräulein Rottenmeier habe ich erfunden, gar Großes hatte ich mit ihr vor, vermessen half ich der Fiktion auf die Sprünge, verplante gegenwärtig alle Zukunft, schob verschämt und mit pochendem Herzen einen Zettel ihr unter, hoffend, die Handlung voran zu treiben, verstieg mich regelrecht in demiurgischer Allmacht, wähnte mich erlöst beim Erscheinen der manipulierten Koindizenz — doch ich erschrak bloß aufs Heftigste, als Fraulein Rottenmeier einfach ausstieg. Ohne eine Wort.
Ich hätte es wissen müssen.

Wer hat Ihnen das Recht gegeben, mit solchen Dingen wie Liebe zu spielen? Ihr Talent? Davon haben Sie doch nur ein Gramm. Wenn es auch mehr wäre, so wäre das gleichgültig — ein Talent ist geschaffen, um den Menschen Freude zu bereiten, und nicht die Menschen sind geschaffen, damit dieses Talent wuchert wie ein Giftpilz. Ein echter Mensch muss in allem echt sein: in den Versen, im Leben und in den Kleinigkeiten. Sie aber sind kein echter. Auch ihre Verse sind Lug und Trug. Sie haben sich mit ihnen aufgeputzt wie mit einem schönen Anzug, um sich vor den Leuten aufzuspielen. Das ist alles, was Ihnen ein so ein kleines und dummes Mädchen sagen kann. Leben Sie wohl.

— Konstantin Paustowskij: Die Windrose (1947)
 
 
Epic45 – In all the empty houses

Ein singender Spiegel in der Bahn

© Peter Kreder (http://www.flickr.com/photos/peterkreder/457364993) CC-BY-NC-SALinie 16, Rodenkirchen Richtung Niehl. Ein junger Amerikaner, Jake ist sein Name, spielt in der Bahn Gitarre. Sehr laut und voller Inbrunst. Er singt ein Lied, das vom „Fucking War Business“ handelt. Ausser seiner Musik ist nichts zu hören. Niemand spricht. Keiner ermahnt den Sänger, doch endlich mit dem schrägen Geklampfe aufzuhören. Eine diffuse Befangenheit ist spürbar.
Jake spielt und blickt dabei immer wieder offen in die Runde. Augenscheinlich sucht er ein Gespräch. Keiner gibt ihm diese Chance. Jake lässt eine passable Kadenz erklingen, hält dann inne und lässt seine Augen über die Gesichter der stummen Mitfahrer gleiten. Er grinst, ganz Prince Charming.

— Don’t worry. I don’t want your money. I just play for your hearts.

Er meint es gut. Erntet aber weder Lächeln noch Spott. Nichts.

— I don’t understand you germans. You have money. You have jobs. But you look so bored.

Schweigen in der Bahn.

— Maybe you have fear? Fear of: what? Maybe … death?

Das Schweigen wird lauter.

Jake blickt erneut von Gesicht zu Gesicht. Die Getroffenen schauen verstohlen nach draußen, als gäbe es dort etwas zu sehen – dabei sind die Straßen lange schon in tiefe Dunkelheit getaucht. Ein junges Paar sitzt händchenhaltend nebeneinander. Beide starren auf irgendeinen Punkt in der Ferne, sie versuchen so zu tun, als würden dort gerade die Lottozahlen der nächsten Woche angezeigt. Jake schüttelt den Kopf.

— You don’t talk to each other. Either to me. No smile. You look so bored. Like you were saying: „Please, Lord, give me death!“

Nur noch das Geräusch der rumpelnden Räder ist zu hören. Nach einem Moment greift Jake wieder in die Saiten und improvisiert aus dem Stehgreif ein Lied. Ein Lied über die Deutschen. Dass sie ja so verdammt große Denker hätten. Pause.

— Yeah, maybe you think too much. And enjoy too little.

Die Bahn legt sich am Barbarossaplatz mächtig in die Kurve. Jake deutet nach draußen:

— I don’t believe Adolf Hitler is dead. There are so many Nazis out there.

Etwas unsanft kommt die Bahn an der Haltestelle zum Stehen, Jake trällert unbeirrt weiter sein etwas anderes Deutschlandlied. Ein schnieker Businessman steigt hinzu – es ist recht voll, er ist gezwungen, seine sichtbar teure Aktentasche neben Jakes Gitarrenkoffer zu drappieren. Jake blickt ihn an.

— You have a Mercedes?

Der Businessman stutzt kurz. Er hat.

— Well, I don’t have a Mercedes. Mercedes are shit in ten years. Why? I have a horse. And it doesn’t eat oil.

Die Bahn gleitet quietschend hinab in die Unterwelt.
Am Neumarkt steigt Jake schließlich aus – „in the middle of the city“ wie er alle ironisch wissen lässt. Die Türen schliessen sich, Jake steht reglos auf dem Bahnsteig, hat sich auf seine Gitarre gestützt. Er sieht aus wie Johnny Depp in »Arizona Dream«. Die Bahn fährt an und entschwindet erneut im dunklen Tunnel.

Einige der  Passagiere blicken sich verstohlen an. Sie lächeln vorsichtig. Als täten sie dies zum ersten Mal.

Es braucht offenbar mehr Jakes auf dieser Welt.

Zwischen Esoterik & Psychologie

Heute war er in Köln: Phlippe Djian, Held meiner Jugend. »Verraten und verkauft«, »Rückgrat«, »Pas de deux«, »Matador« — so heissen einige seiner Bücher. Ich verschlang sie damals. Und wollte sie nie zuende lesen, weil ich wusste: Ich werde wieder weinen. Nicht, weil seine Bücher traurig sind. Zum Ende hin entwickeln seine Romane oft ein unbeschreibliches Cresendo, das mir auf den letzten Seiten stets den Atem nahm. Bei so viel Talent, Timing und Tonalität können einem wirklich die Tränen kommen. Freudentränen. Die Lektüre von Djians Büchern war mir Lektion. In vielerlei Hinsicht.

Nun also: Lesung in Köln. Seine Doggy-Bag-Soap will auch in Deutschland an den Mann gebracht werden. Djians Romane habe ich seit zehn Jahren nicht mehr verfolgt. Schon »Heisser Herbst« sagte mir nichts mehr. Andere Autoren fanden mich. Vielleicht ist es eine Frage des Alters. Oder des eigenen Weges. Passiert nun mal. Da ich jedoch sowieso zu dieser Zeit werktäglich am Bahnhof rumhänge, wollte ich mir ein Wiedersehen nach zehn Jahren nicht entgehen lassen.

Er war noch nicht anwesend, als ich die Buchhandlung betrat. Die Plätze jedoch, in der oberen Etage, am Ort der Lesung, waren schon reich bevölkert. Lauter Menschen in meinem Alter. Keine Jugendlichen, keine  Studenten, keine neue Generation der Leserschaft. Ein sattes Publikum, irgendwie. Auf der Suche nach: den Wurzeln? Wer weiss.

Schließlich kam er, gerade mal fünf Minuten zu spät. Sechzig ist er dieses Jahr geworden. Langsam fuhr er die Rolltreppe hoch, sein schütteres Haupthaar: kaschiert durch eine lässige Schiebermütze, die Kleidung: wie ein Germanistik-Student im vierten Semester. Alt ist er geworden. Jung will er bleiben. Shake hands hier und dort, er nimmt auf dem Podium Platz. Flankiert vom Moderator/Übersetzer Stefan Barmann. Dieser eröffnet nuschelnd die Lesung, sondert gelangweilt banales Blabla von sich, seine erste Frage an den Autor goutiert dieser mit einem süffisant-souveränen »Ich verstehe die Frage nicht«.

Erst jetzt bemerkte ich, dass Djian zwischen den Regalreihen »Esoterik« und »Psychologie« drappiert wurde.

Ich verließ diesen unwürdigen Ort — im Wissen: das, was folgt, wird keine Bedeutung mehr haben. Auf dem Weg zum Bahnsteig wendete ich mich jedoch noch einmal um und schaute zurück, nach oben, in die erste Etage der verglasten Buchhandlung. Dort saß er also, der Held der Jugend, mit dem Rücken zu mir. Und versteckte seine Glatze unter einer Mütze und machte gute Miene zu irgendeinem Spiel, das mich nicht mehr interessiert.

Auch Idole haben eine Halbwertszeit. Ich möchte sie lieber in guter Erinnerung behalten.

Meide die Orte, an denen über Bücher gesprochen wird. Höre auf niemanden. Wenn sich jemand über deine Schulter beugt, spring auf und schlag ihm ins Gesicht. Schwing keine Reden über deine Arbeit, es gibt nichts dazu zu sagen. Frag dich nicht, warum und für wen du schreibst, sondern denke, dass jeder deiner Sätze der letzte sein könnte.

— Phlippe Djian: Pas de deux (1994)

Revolution revisited

© Johan Roed [http://www.flickr.com/photos/johanroed] CC-BY-NC-SAPoesie ist die einzige Macht, die Menschen wirklich verändern kann. Poesie bedeutet „Erschaffung“. Wir alle erschaffen tagtäglich die Realität kraft unserer Gedanken. All den Dreck, all den Müll, all diese Kriege, diesen Neid, diese Unfähigkeit zur Empathie. Aber auch das Schöne. Und die Liebe.
Verändere deine Gedanken, erkenne die Perlen im Dreck, blicke gerade auf die Nebensächlichkeiten als wären es Naturwunder, teile dieses Gefühl mit anderen – ja, infiziere sie – und du revolutionierst die Welt.
Dies ist meine feste Überzeugung.

Deshalb erstaunt es mich auch wenig, dass mir der „Zufall“ dies über Bande zugespielt hat:

Wissen Sie, wer in dem Hause gegenüber wohnte?« sagte der Schatten; »das war das Schönste von allem, das war die Poesie. Ich war dort drei Wochen, und es hatte die gleiche Wirkung, als ob man dreitausend Jahre gelebt und alles gelesen hätte, was je gedichtet und geschrieben worden ist. Das sage ich, und das ist richtig. Ich habe alles gesehen und weiß alles.

— H.C. Andersen: Der Schatten

Gespräche mit Herrn Prunus

Gestatten: Mein Name ist Prunus.Möglicherweise war dies der letzte warme Tag des Jahres. Grund genug, Herrn Prunus mal wieder zu behelligen. Ich muss ihn nicht lang suchen, er ist dort, wo er seit fünfzig Jahren schon zu finden ist: am Anfang der Obstwiese — die unser Nachbar (ein im Grunde herzensguter Mensch) als eine der Brutstätten der heurigen Schneckenplage ausgemacht haben will. Ist ja alles so verwildert. Irgendwie schon wahr. Soll aber hier nicht weiter interessieren.

In lauen Sommernächten suche ich gern die Nähe von Herrn Prunus. Er scheint stets auf mich zu warten, wenn ich abends aus dem maladen Moloch namens „Metropole“ heim kehre und den Unsinn des Tages los werden muss. Bei ihm ist immer ein Stuhl frei. Ich wähle meist den niedrigeren, denn er erlaubt mir eine bessere Bodenhaftung. Ich sitze dann dort und mache eigentlich nichts weiter, als genau das: Den Blick schweifen lassen über den Waldrand, es ist still. Hin und wieder macht ein Fuchs Geräusche, als würde er kotzen — und die Käuze, die ich wohl nie zu Gesicht bekommen werde, erzählen sich Witze, die ich nie verstehe. Nebel steigt aus den umliegenden Feldern und das Tageslicht verdämmert in atemberaubendem Tempo. Friede ist auf der Welt. Ich schwinge sanft hin und her im Hängestuhl meiner Tochter, der die Pubertät gerade das Hirn neu verdrahtet und hänge meinen Gedanken nach — sie tropfen sanft ab in den taufrischen Hort der Schneckenbrut — und alles ist gut.
Und Zeit für seinen Auftritt.
Je nach Lage segelt mir dann meist ein Blatt auf den Kopf, ganz sanft. Oder eine reife Kirsche ploppt auf die Fontanelle, ohne mir Schmerz zuzufügen.

— Na, Chef, wie war dein Tag?

Das ist sein Standard-Intro. Seit vier Jahren schon. Ich suche nach den richtigen Worten.

— Ach, eigentlich ganz okay. Der übliche Wahnsinn halt. Ich übe mich tapfer im Erzeugen von Realität. Muss ich noch ein bisschen dran feilen. Gelingt mir aber von Tag zu Tag besser.

— Is‘ klar.

— Was »Is‘ klar«?

— Scheinst ja immerhin auf mich zu hören. Versuchst es wenigstens.

Schweigen.

— Siehst müde aus, sagt er.

— Bin ich auch.

— Warum?

— Lange Geschichte.

— Ich hab‘ Zeit. Solltest du inzwischen wissen.

Es ist jetzt dunkel. Nur meine Zigarettenglut spendet noch fahles Licht. Und mich finden endlich Worte. Ob sie richtig sind, weiss ich nicht.

— Es ist alles so anstrengend … und aufreibend.

— Bullshit.

Ich schaue hoch in den Himmel, auf die Arme von Herrn Prunus, die in alle Himmelsrichtungen zeigen — ausser nach Westen, da lugt nur ein rudimentärer Ast heraus.

— Aha.

Pause. Der Fuchs im Pappelhain erbricht irgend etwas. Knochen vielleicht.

— Du hast mir letzes Mal nicht richtig zugehört.

— Blödsinn.

—  Inzwischen solltest du auch wissen: Im Grunde ist alles ganz einfach.

Die Zigarette fliegt auf das angrenzende Gründstück. Der grundsätzlich nette Nachbar wird morgen behaupten: „Jetzt fangen die Schnecken auch noch an zu rauchen. Unglaublich!“
Geschenkt.

— Wenn mir die Kälte entgegen bläst …

— … verlierst du die Blätter, ergänze ich.

— Genau. Einem nackten Mann kann man so nichts mehr nehmen.

— Und im Sommer…, setze ich fort.

— Im Sommer, da steht alles im Saft, dann werfe ich richtig mit meinen Geschenken um mich.

— Weiss ich. Und?

— Was »und«?

— Was willst du mir damit sagen, alter Mann?

Eine Wühlmaus quietscht. Ich verstehe nicht, was sie sagt. Herr Prunus offenbar aber schon.

— Richtig. Alles zu seiner Zeit.

— Ich verstehe nicht so ganz.

— Weiss ich. Und genau das ist den Problem — Was trinksten du da?

Ich schaue in mein Glas und komme mir plötzlich klein vor.

— Einen 92er Bergerac. Wieso?

— Haste noch was übrig? Sieht verdammt lecker aus.

Ich schraube mich aus dem Hängestuhl, gewillt, Herrn Prunus ein Gläschen zu kredenzen …

— Kommst du?, ruft sie aus der Küche.

— Ja, antworte ich.

Und weiss schlagartig, dass ich mit Herrn Prunus noch lange nicht fertig bin. Ich trotte durch die Wiese Richtung Haus und drehe mich noch einmal um:

— Wir sprechen uns noch!, rufe ich ins Geäst und meine Herrn Prunus.

Als ich den Komposthaufen passsiere, höre ich ein leises Seufzen.

–Is‘ klar. Du weisst ja, wo du mich findest.

Die Nacht wird sternenklar. Ob ich schlafen kann, steht ebenfalls in den Sternen. Wie gut, dass Herr Prunus nicht wegläuft.

Fate drives you insane

1988. Ein Freitag im Winter. Auf dem Weg ins Programmkino. Damals gab es noch „Lange-Film-Nächte“. Gezeigt wurde ein Double-Feature: »Betty Blue« von Beneix und »9 1/2 Wochen«. Sie saß neben mir im rostigen Renault 14 — meinem ersten Auto; in zwölf Monaten würde ich die 1200 Mark abbezahlt haben, die ich mir für diese Kiste zusammengeliehen hatte. Es war schweinekalt in dieser Nacht, doch sie trug nur einen kurzen schwarzen Rock und darunter eine hauchdünne schwarze Strumpfhose. Das war cool. Damals.
Ich liebte sie. Das tat ich schon vorher. Zwischendurch allerdings — aus Gründen, die ich hier weder nennen noch beschreiben möchte — eine zeitlang nicht mehr.
Wir hielten an einer Nachttanke. Sie wollte ein Eis. Warum nicht? Nach zwei Minuten stieg sie wieder ein und lutschte hingebungsvoll am Cornetto Erdbeer. Das war so süß.
Während der Fahrt ins Kino schwiegen wir. Die einzigen Geräusche im Renault waren der rumpelnde Motor, das Schmatzen von Zunge auf Eis und die Musik aus dem Autoradio.

— Schöne Musik haste da. Was is’n das?
— Peter Murphy.
— Aha.

Ich wollte sie auf der Stelle küssen. Dafür musste ich allerdings noch bis zum Morgengrauen warten. Ich trug sie Huckepack zum Auto. Sie lachte laut. Und mir wurde klar, dass wirklich alles seine Zeit hat.
 
 
Peter Murphy – Time Has Got Nothing To Do With It

Eine Frage des Fokus

Mein Weg bestand lange Zeit darin, mich voll und ganz auf den Schmerz zu konzentrieren, ihn auszuloten bis in schwärzeste Tiefen, um anschließend jene unscheinbaren Perlen an die Oberläche zu hieven, die ich im stinkenden Morast gefunden hatte — und diese als Beweis für eine mögliche Schönheit ins Licht zu halten, an die ich tief drinnen stets inständig glaubte. Doch niemand glaubte mir.

Dann fand ich dies:

Vielleicht ist es die Aufgabe der Schriftsteller, der Dichter und Maler, das Leben als das Schönste und Vernünftigste, was es unter der Sonne gibt, zu preisen.

Konstantin Paustowskij, Forsthaus 273

Selbst. Vergessen.

© Richard Messenger [http://www.flickr.com/photos/richardmessenger/3772445658] CC-BY-NCDer Sommer war prall gefüllt mit unzähligen kleinen Momenten des stillen Glücks: Ein wohlgekühltes Glas Picpoul de Pinet in der Dämmerung – ich selbst dabei an den Kirschbaum gelehnt; der Duft des Gartens am frühen Morgen; ein heftiges, doch reinigendes Gewitter in den Schweizer Bergen; am Feuer sitzen, in die Glut schauen, ein kurzer Blick zum Himmel: Sternschnuppe; Kinder, die mich mit großen Augen ansehen; Lili, mit der ich nächtelang philosophierte; Charlie – an meiner Schulter eingeschlafen – ich trage sie nach oben; laut Musik hören, bei geöffneten Fenstern – ein Spatz nimmt Platz auf der Fensterbank, blickt mir grinsend in die Augen und hüpft vor Freude; Jörg Fauser in der Bahn lesen – und fast vergessen, auszusteigen; am Bahnhof warten und die kleine, süsse Portugiesin beobachten, die iPod-gestählt am Rande des Pontons selbstvergessen zur Musik tanzt.

In kleinen Dosen

By montillon [ http://www.flickr.com/photos/montillon/3216317664 ] CC-BY-SAMeine Schwester arbeitet in der chemischen Forschung. Während ihrer Ausbildungszeit war es üblich, verharzte Hände mit Benzol zu reinigen. Das funktionierte auch ganz prima — bis man heraus fand, dass diese aromatische Verbindung schwer krebserrregend ist.
Auch verstieg man sicher früher in der Annahme, ein Fluss wäre sauber — bis es Messgeräte gab, die kleinste Mengen von Cadmium im ppm-Bereich nachweisen konnten.

Was sagt uns das?

  1. Die Wissenschaft bleibt nicht stehen, sie macht Fortschritte, sie lernt nie aus.
  2. Wissenschaftliche Ergebnisse sind also relativ und niemals abschließend.
  3. Was man nicht sucht, wird man (meist) nicht finden.
  4. Etwas, was momentan noch nicht nachweisbar ist, wird man zukünftig vielleicht beweisen können.

Das alles finde ich super. Wissenschaft ist töfte, macht hin und wieder sogar Spaß, hält den Verstand auf Trab und ist das bisher beste Mittel, der Realität immer näher auf die Pelle zu rücken.
Vielleicht findet man dann auch irgendwann heraus, dass Homöopathie und andere alternative Heilmethoden tatsächlich wirken. Oder das alles eben doch nur Scharlatanerie brutalsten Ausmaßes ist.

Bis dahin werde ich deshalb vermeiden, solche Diskussionen erneut zu führen.
Weil ich weiss, dass ich (eigentlich) nichts weiss.

Köln. Hodenkneterstadt.

Wir lebten inzwischen am Rande des Eigelsteins, einer türkischen Enklave in der Nordstadt. Von den Bahngleisen, auf denen der Thalys mehrmals täglich zum Gare Du Nord rauscht, trennte uns bloß ein Häuserzug. Halbe Tage konnte ich nun nicht mehr in Cafés verbringen, ich beliess es meist auf ein, zwei Espresso. Länger hätte ich auch nicht mehr ertragen. Das unaufhörliche Dröhnen der Stadt begann an meinen Nerven zu zehren. Schon der Gang um’s Eck, zu Ali, meinem Kioskmann, wurde zur Qual. Meinen Platz auf dem Gehweg musste ich mir immer öfter mit spitzem Ellbogen und abgewendetem Blick ertrotzen. Schleichend verwandelte sich der gesamte Alltag in Kampf. Gestank penetrierte plötzlich ungefragt die Nase – und die Ohren wurden malträtiert von jaulendem Türk-Pop, der mich stets an Sänger denken ließ, denen ein unsichtbarer Derwisch die Hoden knetet. Furchtbare Musik. Dabei bin ich wirklich offen, was Musik betrifft: Es gibt so viele unterschiedliche Stile und Richtungen, die mich wahrhaftig bei den Eiern packen. Doch der Zugang zu orientalischen Kompositionen wird sich mir wohl nie erschliessen. Er wird auch nicht erleichtert durch ein infernalisch lautes »Ayshe« aus einem tiefergelegtem 3er-BMW, der unter meinem Fenster dahin wummert – gerade in einem Moment, wo ich Zuflucht suche in den leisen Klängen von Sigur Ròs.